50 Jahre »Radikalenerlass«: Betroffene forderten Rehabilitierung

Opfer der Berufsverbote protestieren in Berlin. Foto: Werner Siebler
Opfer der Berufsverbote protestieren in Berlin. Foto: Werner Siebler

Betroffene des sogenannten „Radikalenerlasses“ oder „Extremistenbeschlusses“, den Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der damaligen Länder am 28. Januar 1972 in Bonn gefasst hatten, nahmen den 50. Jahrestag dieses Ereignisses zum Anlass für eine Aktionswoche: eine Konferenz und Veranstaltungen in Berlin, eine Mahnwache in Potsdam, Gespräche mit Abgeordneten des Deutschen Bundestags und dem Innenministerium.

Einerseits geht es um die Aufarbeitung der Folgen, die der damalige Beschluss im Verantwortungsbereichs des Bundes und der Länder hatte – Stichwort „Berufsverbote“ und Beschädigung der Demokratie -, um die Rehabilitierung und Entschädigung der in den 1970er- und 1980er-Jahren Betroffenen. Andererseits wird entschieden abgelehnt und mit großer Besorgnis wahrgenommen, dass in Brandenburg Innenminister Stübgen (CDU) ein Gesetz ähnlicher Art durch den Landtag beschließen lassen will. Es soll ein sogenannter „Verfassungstreue-Check“ für den öffentlichen Dienst eingeführt werden, bestehend aus einer „Regelanfrage“ beim „Verfassungsschutz“, der – wie damals – die Deutungshoheit haben soll, was unter „Extremisten“ eigentlich zu verstehen sei.

Hochkarätige politische Unterstützung erhielten diese Anliegen der Betroffenen bei einer Veranstaltung am 17. Mai im Haus der ver.di-Bundesverwaltung durch die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis, die ehemalige Bundesjustizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) und die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern. Solidarische Grüße überbrachte Cornelia Kerth, Bundessprecherin der VVN-VdA.

Andrea Kocsis bezeichnete die Einführung desRadikalenerlasses“ als ein „wichtiges, bitteres Datum“, das eine „Hexenjagd auf junge Menschen“ eröffnet habe. Sie drückte ihre tiefe Betroffenheit aus („Unfug braucht keine Wiederholung“, Heribert Prantl) und erklärte für ihre Gewerkschaft hinsichtlich der damaligen gewerkschaftlichen Unvereinbarkeitsbeschlüsse: „Ich bitte um Entschuldigung“, und forderte eine Rehabilitierung mit Entschädigung für die vom Berufsverbot Betroffenen.

Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin ging ausführlich auf die Vorgeschichte und Auswirkungen des 1972 von der Ministerpräsidentenrunde gefassten Beschlusses ein und betonte, dass die Berufsverbote eine„schlimme Bedrohung unserer Demokratie“ darstellten, ein „Ausdruck der Kalten Kriegspolitik“, „eine Schande für unsere Demokratie und ein Riesenfehler“ gewesen seien. Die Rednerin würdigte „den tapferen Widerstand der Betroffenen“ gegen die Maßnahmen. Entschuldigungen, Aufhebung von Entscheidungen und Entschädigungen seien jetzt erforderlich. Nicht verwischt werden dürfe bei der Abwehr von Rechtsextremen der „Unterschied zum Extremistenbeschluss: Dort wurde mit Prognosen aufgrund von dubiosen ‚Erkenntnissen’ von Vorurteils behafteten Verfassungsschützern gearbeitet. Beim Disziplinarrecht geht es um Verhalten, um nachgewiesene Pflichtverletzungen und damit um rechtsstaatliche Vorgehensweisen.“

Maike Finnern bedankte sich bei den Betroffenen: „Euer Engagement ist von unschätzbarem Wert, wir stehen fest an eurer Seite“. Die Fehler der Vergangenheit dürften sich nicht wiederholen, äußerte sie sich mit Blick auf Bestrebungen zur Wiedereinführung einer Regelanfrage. Sie begrüßte die Entschließung des Niedersächsischen Landtages vom 16.12.2016, bedauerte aber, dass die Frage einer Entschädigung für das Unrecht unberücksichtigt blieb. Sie werde sich dafür einsetzen, dass Betroffene verstärkt als Zeitzeugen an Schulen auftreten könnten, denn sie seien „Vorbilder für 50 Jahre aufrechter Gang“.

Cornelia Kerth beglückwünschte die vom Berufsverbot Betroffenen „zu ihrem langen Atem und ihrem Durchhaltevermögen. Sie erinnerte daran, dass bei der Einführung der Berufsverbote 1972 der damalige Chef des „Verfassungsschutzes“, Hubert Schrübbers, eine „Blutjuristenvergangenheit“ aufwies und forderte die Auflösung des Inlandsgeheimdienstes, da er eine Gefahr für die Demokratie darstelle.

Musikalisch wurde der Abend gestaltet von der Gruppe „Grenzgänger“ mit Liedern und dem Liedermacher Bernd Köhler – der Proteste gegen die Berufsverbote von Anfang an mit sei Liedern begleitet hatte – gemeinsam mit der Formation „ewo2“. Jane Zahn und Michael Csaszkóczy, beide selbst Betroffene, rezitierten gemeinsam mit Bernd Köhler aus den Akten solcher Verfahren.

Vor dem Landtag von Brandenburg in Potsdam führten Betroffene am 18. Mai eine „5 vor 12“-Mahnwache durch. Gegen Rechtsextremismus im Staatsdienst vorzugehen – angeblich das Anliegen – sei mit dem Disziplinarrecht und Mitteln des Strafrechts jederzeit möglich, wenn es wirklich politisch gewollt sei. Dazu bedürfe es keines neuen Gesetzes, das allgemein von „Extremisten“ rede, die Beweislast umkehre und, Erfahrungen der letzten 50 Jahre missachtend, die Frage der „Verfassungstreue“ ausgerechnet in die Hände eines kompromittierten Geheimdienstes lege. Das könne ein Dammbruch zum weiteren Abbau demokratischer Rechte, zur Herstellung von Duckmäusertum durch Einschüchterung, Bespitzelung und Unterdrückung nach bekanntem Muster werden. Antifaschismus bleibe eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Am Abend des 18. Mai las in der jW-Ladengalerie bzw. Maigalerie der Hamburger Lehrer Hans-Peter de Lorent aus seinem 1980 erschienenen Roman „Die Hexenjagd“, der auf eigenen Erfahrungen beruht und durch einen spektakulären Prozess bekannt wurde. Musikalisch begleitet wurde er von dem Liedermacher Kai Degenhardt, der auch Lieder seines Vaters Franz Josef Degenhardt vortrug.

Drei bekannte Berufsverbots-Betroffene – Silvia Gingold, Werner Siebler und Michael Csaszkóczy – übergaben am 19. Mai im Bundesinnenministerium Ministerialdirektorin Walter (stellvertretend für Innenministerin Faeser) über 3.500 Unterschriften eines von zahlreichen prominenten Persönlichkeiten unterstützten Aufrufs zur Rehabilitierung der „Radikalenerlass“-Betroffenen. Von Frau Walter wurde Verständnis für das Anliegen geäußert (ohne konkrete Schritte zu nennen) und zugesichert, dass es bei den Ankündigungen des Ampel-Koalitionsvertrages zur Bekämpfung von „Verfassungsfeinden“ ausschließlich um eine Verfahrens-Beschleunigung beim Disziplinarrecht bei manifesten Dienstvergehen gehen solle, nicht um die Reaktivierung der „Gewährbieteklausel“. Die „Regelanfrage“ werde auf Bundesebene nicht wiederbelebt. Eine politische Eignungsprognose über Menschen, die den Beamtenstatus anstreben, werde es allerdings weiterhin geben. Dafür müsse es aber Indizien geben, die aus tatsächlichen verfassungsfeindlichen Handlungen bestehen.

In der Folge des „Radikalenerlasses“ waren 3,5 Millionen durch den Inlandsgeheimdienst „überprüft“ worden. Offiziell 1.520 Linke, progressive Menschen und DemokratInnen wurden nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt oder entlassen. Die Dunkelziffer ist hoch.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erklärten 1987 bzw. 1995 diese Maßnahmen für unvereinbar mit den Kernnormen des Arbeitsrechts (ILO-Übereinkommen Nr. 111) und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Seit 2006 gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.

Gewerkschaftstage von DGB, GEW, ver.di und IG Metall unterstützten die Betroffenen und ihre Forderungen.

Die Landesparlamente von Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin beschlossen zwischen 2012 und 2021, sich für die damaligen Maßnahmen bei den Betroffenen zu entschuldigen und die Folgen aufzuarbeiten.