Rede von Heike von Borstel auf der Kundgebung zum 76. Jahrestag der Hinrichtung der Mitglieder der Weißen Rose am 23.02.2019

Liebe Anwesende

Ich begrüße Euch und Sie im Namen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschisten zu unserem Gedenken an die ermordeten Mitglieder der Weißen Rose in München und Hamburg. Gestern jährte sich die grausame Hinrichtung der jungen Widerstands-kämpferin Sophie Scholl, ihres Bruders Hans Scholl und ihres gemeinsamen Freundes Christoph Probst am 22.2.1943 in München zum 76. Mal. Ihnen folgten ihre Kommilitonen Alexander Schmorell und Willi Graf und Professor Kurt Huber. Sie überschrieben ihre ersten 4 Flugblätter mit „Flugblatt der Weißen Rose“.

Insgesamt waren es 6 Flugblätter gegen das Naziregime die diese mutigen jungen Menschen geschrieben und mit Hilfe vieler anderer mutiger Menschen im ganzen Reich verbreitet haben. So kamen die Flugblätter u.a. durch die Studentin Traute Laferentz und nach der Ermordung der 3 durch den Hamburger Chemiestudenten Hans Leipelt und seiner Freundin Marie Luise Jahn nach Hamburg. Im Haus seiner Mutter Katharina Leipelt hatten sich schon früh regelmäßig Menschen getroffen, um sich über ihre Kritik am Regime auszutauschen. Auch im Keller der Buchhandlung „Agentur im Rauhen Haus“ am Jungfernstieg 50, trafen sich immer wieder und mit der Zeit immer mehr Menschen, um über Hitler und das unmenschliche System der faschistischen Regierung zu sprechen und zu überlegen, wen sie noch in ihren Widerstand einbeziehen könnten.

Hans Leipelt, Katharina Leipelt, Margaretha Rothe, Dr. Kurt Ledien, Margarethe Mrosek, Elisabeth Lange, Frederick Geussenhainer und Reinhold Meyer. Sie alle gehörten zu diesen Kreisen. Sie alle wurden auf grausamste Weise gequält und ermordet. Nach dem Krieg nannte man sie den „ Hamburger Zweig der Weißen Rose“, weil es vielfältige Verbindungen gab und sie die Flugblätter auch hier verbreiteten.

Erinnern – Gedenken – Mahnen – Gegen das Vergessen – gegen das Verschweigen und Verdrängen – die Lebens- und Leidensgeschichten der Ermordeten erzählen – ihnen Gesichter geben – durch Stadtteil- und Stolpersteinrundgänge, Veranstaltungen, Filme, Mahnwachen – Mahnmale – wie dieses hier.

Dass das Ortszentrum von Volksdorf seit über 40 Jahren ihren Namen trägt und hier ein Mahnmal in Form einer stilisierten Rose des Bildhauers Franz Reckert steht, – und nach ihrem Verschwinden wieder steht – eine Gedenk-platte mit den Namen, eine Hinweistafel, einen Informationsraum in der Bücherhalle – und dass es inzwischen viele Stolpersteine in den Walddörfern gibt, ist vielen sehr engagierten, nicht aufgebenden Menschen in Volksdorf zu verdanken. Da ist der Arbeitskreis Weiße Rose, der Geschichtsraum Walddörfer, die Begegnungsstätte Bergstedt, die Schüler des Walddörfer Gymnasiums und der unermüdliche Herr Stockhecke… um nur einige zu nennen.

Und doch denke ich manchmal, wenn ich hier beim Einkaufen vorbeigehe, wer von den vielen inzwischen nach Volksdorf gezogenen jungen Eltern ihren Kindern und die vielen Großeltern, die hier mit ihren Enkelkindern zum Eisessen auf der Mauer sitzen, könnte denn die Geschichte von Frederick Geussenhainer oder Elisabeth Lange erzählen, wenn sie von ihren Kindern und Enkelkindern gefragt werden, „was das da ist“ und wenn sie Lesen gelernt haben und fragen: „Margaretha Rothe – wer ist das?“

Kennen sie die Flugblätter? Wissen Sie, was diese Menschen, deren Namen sie hier sehen durchgemacht haben? Was ihnen geschehen ist?

Lasst uns weitermachen – mit dem Erinnern an all die Menschen, die es gewagt haben, dem verbrecherischen faschistischen Regime die Stirn zu bieten.

Sie wollten Freiheit und kein alles erstickende Gängelnde. Sie schrieben es nachts an die Wände – in München, Hamburg und anderswo. Freiheit war das letzte Wort von Hans Scholl. Sie wollten offen ihre Meinung sagen, offen politische Diskussionen führen dürfen. Sie wollten die verbotenen Bücher lesen, die sogenannte „entartete Kunst“ kennen lernen. Swingmusik hören und tanzen.

Sie wollten es für sich und alle Menschen.

Sie wollten, dass die massenhafte Ermordung der jüdischen Menschen, die unbeschreiblichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den besetzten Gebieten aufhört.

Sie wollten Frieden. Wollten, dass das sinnlose Abschlachten so vieler Menschen aufhört. Einige von ihnen waren als Soldaten im Krieg oder als Medizinstudenten im Kriegseinsatz und erlebten die Grausamkeiten des Krieges und der Verbrechen gegen die Zivilgesellschaft.

Sie forderten in ihren Flugblättern zur Sabotage in den kriegswichtigen Fabriken auf, zur Verweigerung aller Aktivitäten des faschistischen Regimes.

Und sie hofften auf viele mutige Menschen, die es ihnen gleichtaten, baten um die Vervielfältigung und Weitergabe ihrer Flugblätter, suchten unter Lebensgefahr weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter in ihrem Kampf. Sie versuchten, sich mit anderen politischen Widerstandsgruppen zu „vernetzen“.

Sie führten ihren Kampf unter barbarischen Verhältnissen, immer unter Einsatz ihres Lebens.

Sie wurden denunziert, verraten, gequält und ermordet.

Lasst uns ihr Vermächtnis auch nach so vielen Jahren aufrechterhalten! Sie wollten informieren, aufrütteln, handeln. Lasst uns das weiter tun!

Und heute?

Wir dürfen noch laut sagen, was ist und mahnen, was daraus werden könnte. Können demonstrieren, Veranstaltungen machen, Flugblätter und andere Publikationen verteilen….

Aber können wir das wirklich alle ohne gefährdet zu sein?

In den letzten Jahren wurden viele Menschen in ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen Rassismus und gegen Antisemitismus beschimpft und ganz persönlich angegriffen, ihre Kinder bedroht, werden Journalisten in den sogenannten sozialen Netzwerken auf übelste Weise verunglimpft und ihnen ganz offen gedroht, werden Menschen auf der Straße gejagt, darf das verbrecherische System und Tun der Nazis als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet werden – ungestraft!

Menschen auf der Straße zeigen wieder unverhohlen den Hitlergruß!

Stolpersteine werden herausgerissen.

Hier bei uns in Hamburg darf die AfD ungestraft zur Denunziation von Lehrerinnen und Lehrern aufrufen! In Magdeburg wird einem jungen Mann von der AfD gedroht, weil er an einer Auschwitzveranstaltung mit Esther Bejerano in Hamburg teilnimmt. Da beschmutzt diese Partei das Andenken von Sophie Scholl, indem sie ein Plakat rausbringt: Sophie Scholl würde die AfD wählen.

Da werden rechtsextreme Strukturen in der Polizei und der Bundeswehr bekannt, die u.a. offensichtlich schon für den Fall der Möglichkeit Todeslisten mit Namen von zu ermordenden Politikerinnen und Politikern, Journalisten und anderen engagierten Menschen angelegt haben. Da werden Daten über die Familie einer der Anwältinnen der Nebenklage im NSU-Prozess von Polizisten in Frankfurt weitergegeben. Und da wird so lange verschwiegen und verdrängt bis es nicht mehr geht.

Lasst uns den Wunsch und das Vermächtnis der Weißen Rose und aller anderen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, der Überlebenden von Buchenwald und Ausschwitz weitertragen.

Lest die Flugblätter der Weißen Rose, verbreitet sie weiter und erzählt von ihren Autorinnen und Autoren! Erzählt den jungen Menschen heute von ihrem Mut. Sie waren keine Helden, keine Märtyrer oder Heilige. Sie waren Menschen, die für ihre tiefe Überzeugung einstanden und handelten, wo andere schwiegen.

Ich möchte mit einem Zitat unserer Esther Bejerano, eine der wenigen noch lebenden Überlebenden von Auschwitz und einem etwas abgewandelten Appell von Julius Fucik, einem tschechischen Widerstandskämpfer kurz vor seiner Hinrichtung enden:

Esthers Worte: „Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten. Erinnern heißt Handeln!“

Menschen seid wachsam – Wir hatten euch lieb!

Quelle:

VVN-BdA Landesvereinigung Hamburg