Worauf wir nicht stolz sein können

Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt der ehemalige Zeit-Redakteur und Kulturchef beim „Spiegel“ Willi Winkler sein Buch „Das braune Netz“ vor. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, heißt es im Untertitel. Junge Historiker betonen vor allem die gelungene Durchsetzung der Demokratie. Dass es oftmals eine fast bruchlose Kontinuität von hohen Funktionsträgern im NS-Regime und in der Adenauer-Zeit gab, ist vielen mittlerweile nicht mehr bekannt.

Das „Braunbuch“ hatte viele dieser Kontinuitäten schon in den sechziger Jahren aufgezeigt. Es wurde seinerzeit im Westen als DDR-Propaganda abgetan. Generationen von Ostschülern hatten im Schulunterricht gelernt, dass alte Nazis im Westen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Presse und Bildung zurückgekehrt waren. Wie das konkret aussah, konnte sich aber kaum jemand vorstellen. Willi Winkler hat das ganze Ausmaß dieser gern vergessenen Schattenseite der westdeutschen Demokratiegeschichte bildhaft aufgezeigt und das braune Netz der Nazis wieder an Tageslicht gerückt. Nazis stützten sich in gesellschaftlich verantwortlichen Positionen gegenseitig, verdrängten demokratische Kräfte rückgekehrter Emigranten, Wiederständler und aus innerer Emigration Erwachter massenhaft aus den Institutionen der westdeutschen Gesellschaft, um eine Fortsetzung ihrer Ideologie unter dem Label des Antikommunismus zu praktizieren. So fällten Kriegsgerichtsräte wieder Urteile, regimetreue Professoren lehrten wieder und Journalisten aus früheren Propagandakompanien schrieben wieder. Der junge demokratisch ausgerichtete Staat gründete seinen Erfolg auf einen moralischen Widerspruch. Er wurde von den Feinden der Demokratie mit aufgebaut, kommentiert der Verlag Rowohlt sein Buch.

Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, hatte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein Opfer der Nazis war, plädierte dafür, mit der „Nazi-Riecherei“ Schluss zu machen – wie übrigens auch SPD-Chef Kurt Schuhmacher. Gleichzeitig regierte Adenauer autoritär und beschwerte sich laufend über die Angriffe der Presse auf ihn. Kanzleramtschef Globke hatte das Handbuch für die Judenvernichtung mit verfasst und kommentiert. Er sagte aber auch gegen Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßen-Prozess aus und trug damit zu seiner Verurteilung ebenso bei, wie er gegen den Widerstand von FDP und CDU Entschädigungszahlungen an Israel mit durchsetzte. Er verkörpert die Ambivalenz der verstrickten Akteure im neuen, alten Establishment.

Für einen Staatsstreich hatte sich das braune Netz zum letzten Mal in der Naumann-Verschwörung 1953 versucht, indem es ehemalige Gauleiter versammelte und die FDP unterwanderte. Im Wesentlichen hatte die größte Fraktion im Bundestag, die der ehemaligen NSdAP-Mitglieder, längst begonnen, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Opportunisten blieben unter sich. Entscheidend war, dass das alte Feindbild vom Kommunismus noch funktionierte. So war es auch nicht überraschend, dass Kanzler Adenauer in seinen Wahlkämpfen gegen die SPD mehrfach vor dem Untergang des Abendlandes warnte. Als Gefangener der Alliierten wäre der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr gern sogleich mit den Alliierten gegen Russland ins Feld gezogen. Das funktionierte nicht, aber das Feindbild blieb –  nicht zuletzt durch einen BND unter dem ehemaligen Nazigeneral Gehlen, der mit alten Nazis ausgestattet die Demokratie behinderte. Mit der Mär von der kommunistischen „Roten Kapelle“, die mit kaputten Funkgeräten und erfundenen 500 Funksprüchen die Kriegswende mit bewirkt haben soll, konstruierte er ein Weiterbestehen der „Roten Kapelle“ mit angeblich über 2.000 Mitgliedern in der Bundesrepublik und dem Schriftsteller Günter Weißenborn an der Spitze. Wegen seiner Ostkontakte wurde einer der erfolgreichsten Autoren von Theaterstücken und Dokumentationen als SED-Mitglied und KGB-Agent denunziert. In seinem biografischen Film „Der Ruf“ kehrt Fritz Kortner 1949 nach Deutschland auf seinen Lehrstuhl zurück, um zu erfahren, dass das NS-Denken fortherrscht und niemand einen Emigranten haben will.

Winkler gelingt es in seinem Buch, mit aussagekräftigen Zitaten und Quellen zu zeigen, wie das braune Netzt funktioniert hat und wie seine wesentlichen Strukturen ausgesehen haben. Typische Akteure, wie der ehemalige SS-Mann und spätere Literaturpapst Holthusen, werden in ihrem opportunistischen Verhalten vorgeführt. 1959 weigerte sich Mascha Kaleko, den Fontanepreis der Berliner Akademie anzunehmen, weil Holthusen der Jury angehörte. Paul Celan zog 1961 seine Zusage zurück, sich in die Berliner Akademie aufnehmen zu lassen, weil er nicht mit Holthusen an deren Sitzung teilnehmen wollte. Wer blieb, war Holthusen.

Den Weg für den Fortbestand des braunen Netzes ebnete das Straffreiheitsgesetz, das am 9. Dezember  1949 fast einmütig im Bundestag und mit dem Segen der Hohen alliierten Kommissare verabschiedet wurde. Der verurteilte SS-Standartenführer Engelmann, der einen italienischen Zwangsarbeiter erschießen ließ, weil dieser drohte, seine Aufseher den näher rückenden Alliierten zu melden, wurde mit dem neuen Gesetz begnadigt. Am 1. April 1953 trat Artikel 131 des Grundgesetzes in Kraft, nach dem NS-Beamte in den öffentlichen Dienst zurückkehren konnten – auch jene, die bisher wegen ihrer NS-Verstrickung vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen waren. Das Recht kannte keine Nazis mehr, sondern nur noch Deutsche, kommentiert der Buchautor.

Die Weiterbeschäftigung der Nazi-Experten zum Aufbau einer neuen Ordnung und Bürokratie sei trotz allem unvermeidbar gewesen, zitiert Deutschlandfunk Kultur den Autor. Ist das tatsächlich so? Musste man Nazi-Täter amnestieren und Nazi-Beamte fördern? War es undenkbar, in Schnellkursen Unbelastete, Emigranten und Widerständler zu Richtern und Neulehrern auszubilden, wie dies im Osten üblich war. Darüber schweigt das ansonsten verdienstvolle Buch.

Quelle:

VVN-BdA Landesvereinigung Mecklenburg-Vorpommern