»Risikolisten«-Poker

Bereits als einzelne EU-Staaten im März bei Nacht und Nebel ihre Grenzen zu den Nachbarn schlossen, war klar, daß jeder sein eigenes Süppchen kochen würde. Der Flickenteppich aus Grenzbestimmungen, wann was für welchen Grenzbeamten ein »triftiger Grund« ist, welche Formulare nötig sind und ob Quarantäne droht, erzeugte reichlich Verwirrung, bevor dann, pünktlich zur Urlaubssaison, die Reisefreiheit zurückkam.

Man bekommt den Eindruck, daß nationale Ressentiments, die früher bei der Abstimmung zum »European Song Contest« ausgelebt wurden, nun ein neues Spielfeld bekommen haben.

Nun scheint endlich die Erkenntnis durchgesickert zu sein, daß ein Virus sich nicht von Grenzen aufhalten läßt, und daß regionale Maßnahmen wesentlich effektiver sind als ein stumpfer Rückfall in nationale Reflexe. Die Erkenntnis aber, daß eine EU-weite (plus Schweiz) gemeinsame Anstrengung vielleicht noch bessere Ergebnisse erzielen könnte, ist wohl noch immer nicht angekommen. Anders läßt sich nicht erklären, warum auch beim neuerlichen Anstieg der Fallzahlen sofort wieder in nationale Reflexe verfallen wurde. Die Listen der einzelnen Staaten zu »Risikoländern« sind jedenfalls derart unterschiedlich, daß sie eigentlich nur politisch und nicht gesundheitlich zu erklären sind.

Warum etwa wurden die balearischen Inseln anders als das spanische Festland bis vor kurzem von Deutschland oder der Schweiz nicht als Risikogebiet eingestuft? Kann es damit zusammenhängen, daß wirtschaftliche Faktoren im Spiel sind und bis zum Ende der Reisesaison gewartet wurde? Warum nimmt die Schweiz Serbien von der Liste, läßt aber Luxemburg drauf? Kann es vielleicht sein, daß viele Einwohner in der Schweiz, ähnlich wie die Portugiesen in Luxemburg, serbische Wurzeln haben und auch hier politisch agiert wurde? Oder anders gesagt: Was hat Äquatorial-Guinea, was Luxemburg nicht hat in der Coronakrise? Dieses Land kam nämlich ebenfalls von der schweizer Liste runter.

Warum hat Deutschland, obwohl selbst einem massiven Anstieg der Fallzahlen ausgesetzt, Luxemburg weiterhin beharrlich auf seiner Aussätzigenliste, was de facto einer einseitigen Grenzschließung gleichkommt? Gleichzeitig zur Verbannung luxemburgischer Reisender aus Deutschland und Österreich hat beispielsweise Österreich das Land als »stabil« eingestuft.

Derlei Beispiele gibt es derzeit viele und der Verdacht, daß es hier eher darum geht, politische Unliebsamkeiten auszutragen und wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund zu stellen, anstatt gemeinsam anzupacken im Kampf gegen die Pandemie, läßt sich nicht ausräumen. Da mutet es schon fast hilflos an, daß die EU auf einer eigens eingerichteten Webseite mit dem Namen »Re-open EU« (Die EU wiedereröffnen) versucht, ihren Bürgern Hilfestellung zu geben, wer denn nun aus welchem Land wohin reisen kann und was für Papiere dort benötigt werden.

Seit März offenbart das Virus schonungslos die Schwächen des herrschenden Gesellschaftssystems, der Globalisierung, der Privatisierung und des EU-Spardiktats in Bereichen öffentlicher Fürsorge etwa in den südeuropäischen Ländern. Wissenschafts-Institutionen, die nun nach strengen Auflagen rufen, haben noch bis vor 1-2 Jahren weitere massive Einsparungen und Schließungen im Krankenhausbereich etwa in Deutschland gefordert. Der Schweizer Bundesrat beschloß Einsparungen im Gesundheitssektor erst diese Woche.

Seit März offenbart das Virus aber auch, daß Luxemburg in einer solchen Lage nationaler Alleingänge auf verlorenem Posten steht, weil es keinen Hebel hat, um auf ungerechtfertigte Maßnahmen der Nachbarländer angemessen zu reagieren. Wichtig wäre es, in den kommenden Jahren einen Fokus zu legen auf mehr Dienstleistungen und Lebensmittelproduktion »Made in Luxembourg«, auf bessere Ausbildungsmöglichkeiten, um die Abhängigkeit von Berufspendlern aus den Nachbarländern abzufedern.

Christoph Kühnemund

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek