Hausgemachter Terror

»Pray for Paris« am Montag in Hongkong. Foto: Bensun Ho (CC BY-SA 2.0) Die Berichte über die blutigen Terroranschläge von Paris lassen mehr Fragen offen als sie beantworten. Es besteht kein Zweifel, dass die Anschläge mit mehr als 130 Toten ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und dass den Opfern unsere volle Sympathie und Anteilnahme gilt. Aber bereits an dieser Stelle kommen bohrende Fragen.

Ist es gerechtfertigt, wenn angesichts des Terrors in Paris über Nacht die halbe Welt in die Farben der französischen Trikolore getaucht wird? Warum ist nach den Terroranschlägen von Beirut, nur zwei Tage davor, nicht weltweit um die 43 Toten getrauert worden? Wird der Preis des Lebens mit unterschiedlichem Maß gemessen? Wie ist es mit Palästinensern, die von israelischen Soldaten und Polizisten tagtäglich erschossen werden, weil sie sich gegen israelischen Staatsterror in den besetzten Gebieten und gegen die Belagerung des Gazastreifens zur Wehr setzen? Warum wurden nicht überall in der Welt Rot-Kreuz-Flaggen gehißt, als Kriegsflugzeuge der USA-Luftwaffe im afghanischen Kundus ein Krankenhaus angriffen und Mediziner und Patienten töteten? Die Liste der Terroropfer ist lang, viel länger als die Liste der Namen der Opfer von Paris am Freitag.

Warum redet der Präsident der USA, der als Oberbefehlshaber direkt verantwortlich ist für Kriegseinsätze mit unzähligen Toten, bereits wenige Minuten nach den ersten Meldungen aus Paris in einer Fernsehansprache über »gemeinsame Werte« und bietet Frankreich »jedwede« Unterstützung an? Gab es etwa mit den von seinen Kampfpiloten getöteten Medizinern in Kundus keine »gemeinsamen Werte«?

Wie kann es überhaupt möglich sein, dass der Herr im Weißen Haus in Washington offenbar schon so genau über die Ereignisse in Paris Bescheid wusste, während Fernsehjournalisten vor Ort noch darüber rätselten, was eigentlich zu diesem Zeitpunkt geschah?

Mit welchem Recht spricht der französische Präsident davon, dass die Anschläge von Paris durch den »Islamischen Staat« verübt wurden? Das angebliche Bekennerschreiben des IS ist selbst für Laien mehr als zweifelhaft. Und wieso kann sein Premierminister einfach behaupten, die Anschläge seien »im Ausland geplant« worden? Und noch schlimmer: Warum behaupten Berichterstatter in den Medien, der Terror komme aus Syrien? Diese Leute wissen genau, dass Syrien nicht für derartige Verbrechen verantwortlich ist – zumal Syrien selbst seit Jahren Ziel und Opfer von Terroristen ist. Und sie wissen auch, dass eigentlich die Gebiete in Syrien gemeint sind, die von militanten Assad-Gegnern aller Couleur gehalten werden, also zum größten Teil bewaffnete Gruppierungen, die von den USA, Frankreich, Britannien und weiteren NATO-Staaten mit Waffen, Geld und Ausbildern großzügig ausgestattet wurden und werden. Es ist nun wirklich kein Geheimnis, dass auch der »Islamische Staat« eine Kreatur des Westens und der reaktionären Golfmonarchien ist.

Warum also sollte der IS ausgerechnet Frankreich angreifen? Dessen »sozialistische« Regierung ist immerhin ein Verbündeter im Krieg gegen die syrische Regierung, auch wenn sie vorgibt, mit Luftangriffen den IS bekämpfen zu wollen.

Hier stellt sich wieder einmal die Frage, wer den größten Nutzen hat. Der liegt zweifellos bei den Politikern und Militärs – nicht nur in Frankreich –, die den Krieg in Syrien intensivieren und die eigene Bevölkerung noch engmaschiger unter Kontrolle haben wollen. Der Terror ist hausgemacht, und er wird mit noch mehr Terror nicht bekämpft, sondern nur noch verschärft.

Uli Brockmeyer
Leitartikel der »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« vom 17. November 2015