Gewalt auf der Straße

Glaubt man Berichten in den bürgerlichen Medien, dann herrscht seit vier Wochen, vornehmlich an den Wochenenden, ein unkontrollierbarer Gewaltausbruch auf den Straßen Frankreichs, eine Zerstörungswut, die sich gegen Polizisten, Bankhäuser, Schaufenster, Sehenswürdigkeiten und Autos richtet. Derartige Aussagen beherrschen die Titelfotos und die Leadsätze der Zeitungsberichte, kommen zum Ausdruck in den Bildern der Fernsehnachrichten. Das ist Meinungsmache wie aus dem Lehrbuch des Boulevard-Journalismus.

Die Wirklichkeit wird damit jedoch nicht abgebildet. Ja, es herrscht Gewalt auf den Straßen Frankreichs. Die wird jedoch nicht in erster Linie gekennzeichnet durch blinde Lust am Zerstören, sondern dadurch, daß immer mehr Menschen sich ihrer eigentlichen Macht bewußt werden, ihre Möglichkeiten erkennen, mit vielfältigen Demonstrationen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Sie erkennen, daß der viel zitierte Satz »die Staatsgewalt geht vom Volke aus« eine Perversion der tatsächlichen Situation in dieser kapitalistischen Gesellschaft ist. Und immer mehr Menschen kommen zu der Erkenntnis, daß es sich lohnen könnte, diesen Satz in die Praxis umzusetzen.

Ja, die Menschen auf den Straßen in Frankreich sind eine Gewalt, jedoch nicht im Sinne von »gewalttätig«, sondern im Sinne von »Gewalt ausüben«. Denn es handelt sich längst nicht mehr nur um Proteste gegen angekündigte Spritpreiserhöhungen. Längst haben Forderungen die Überhand, in denen es um die Zukunft geht. Schüler und Studenten demonstrieren für besseren Zugang zu einer zukunftsfähigen Bildung, Arbeiter und Angestellte für eine Entlohnung, mit der ein menschenwürdiges Leben möglich ist, und gegen Steuern, die sie deutlich mehr belasten als die Reichen im Lande, deren Interessenvertreter der derzeitige Präsident ist. Rentner fordern eine Rente, die den Mühen ihres Arbeitslebens würdig ist, und Landwirte protestieren gegen zunehmende Belastungen.

Die Demonstrationen, die bisher niemand zu organisieren scheint, verlaufen in der Regel friedlich, haben verschiedene Formen angenommen. Beeindruckend sind Aufnahmen einer Gruppe von Demonstranten, die am Samstag in Paris, in der Nähe der symbolträchtigen Bastille, vor den Augen der bis an die Zähne gerüsteten Polizisten zur Musik einer Blaskapelle fröhlich auf der Straße tanzten. Das sind keine Gewalttäter, das sind Menschen, die es satt haben, nach der Pfeife der Oberen zu tanzen. Die Gewalt, die in den bürgerlichen Medien beklagt wird, geht eher von den Schlagstöcken und Wasserwerfern der Polizei aus, und leider auch von einigen Chaoten, zuweilen von Agents provocateurs.

Die Herrschenden haben sich – nicht nur in Frankreich – mit ihrer Politik, die vor allem die Profitinteressen der Banken und Konzerne bedient, in eine Situation gebracht, in der es immer schwerer wird, einen Ausweg zu finden. Was auch immer Präsident Macron und seine Adepten verkünden, um die Lage zu entspannen – es wird nicht dazu führen, daß sich irgendetwas grundlegend an der Misere ändert, in der bereits viele Menschen leben und in die immer mehr Menschen abzugleiten drohen.

Nein, es steht keine Revolution bevor in Frankreich. Aber die Mobilisierung von Zehntausenden, die die Sympathie von 80 Prozent der Franzosen und auch unsere genießen, trägt dazu bei, das Bewußtsein zu entwickeln, daß nichts so bleiben muß wie es ist. Und das ist die eigentliche Gewalt, die auf den Straßen Frankreichs erkennbar wird.

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek