Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?

Knapp zwei Monate nach der Einführung des Lockdowns (der sogenannten „Phase 1“, wie die italienische Regierung sie bezeichnete) am 9. März 2020 befinden wir uns in Italien nun im Übergang zur sogenannten „Phase 2“, also der (schrittweisen) Wiedereröffnung der industriellen Produktion und des gesellschaftlichen Lebens. Seit dem 27. April nehmen rund drei Millionen Arbeiter*innen ihre Arbeit wieder auf. Sie ergänzen nun all jene Arbeiter*innen, die während des Lockdowns trotz gesundheitlichen Risiken nie aufgehört hatten zu arbeiten. Anfang Mai wurden die meisten industriellen Aktivitäten wieder gestartet. Für einen Teil der Dienstleistungen und des Handels ist der Zeitplan, den Premierminister Giuseppe Conte am 26. April angekündigt hatte, etwas gestreckter: Bis zum 1. Juni soll Italien zur „Normalität“ zurückkehren – falls die Zahl der Erkrankungen und der Todesopfer von Covid-19 nicht wieder zu steigen beginnt.

Während für die Lohnabhängigen vielerorts die „Phase 2“ eine zunehmende Gefahr für Leib und Leben bedeutet, gibt es an anderen Orten dennoch Bewegung: In den letzten zwei Monate der Pandemie haben die Arbeiter*innenkämpfe bereits zwei verschiedene Phasen erlebt und in Kürze werden wir in die dritte Phase eintreten.

Phase 1: Die Arbeiter*innen mobilisieren sich für das Recht auf Leben

In den ersten beiden Märzwochen erlebten wir eine kurze, aber intensive Phase der Arbeiter*innenmobilisierung: wilde Streiks, Streiks, die von den konfliktorientierten Basisgewerkschaften USB, S.I. Cobas und CUB und teilweise von der FIOM (die größte Metallarbeiter*innengewerkschaft, die zum linken Gewerkschaftsbund CGIL gehört) organisiert wurden, oder auch Arbeitsniederlegungen durch Inanspruchnahme von Krankheitstagen, Urlaub und Spezialabsenzen. Für einen Teil der Klasse handelte es sich zudem um einen Kampf für die Einführung von smart working, also von der computergestützten Heimarbeit. Dabei ging es aber nicht darum, diese Form der Arbeit grundsätzlich als besseres Arbeitsverhältnis zu sehen, sondern darum, unmittelbar das Ansteckungsrisiko zu minimieren.

Die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL hinkten diesen Streiks oft hinterher, was auf ihre abnehmende Verankerung in den Betrieben zurückzuführen ist. Sie begannen die Belegschaften erst dann zu verteidigen, als die Streiks schon in vollem Gange waren. Ein Beispiel für dieses Versäumnis sind die Arbeiter*innenproteste bei FIAT-FCA in Pomigliano d’Arco bei Neapel. Hier hatten die Arbeiter*innen die Arbeit aufgrund der fehlenden gesundheitlichen Schutzmaßnahmen niedergelegt. Erst infolge dieser Streiks unterzeichneten die Unternehmensleitung und die Gewerkschaften ein betriebliches Abkommen zur Sicherstellung der gesundheitlichen Schutzmaßnahmen, was wiederum zur vorübergehenden Schließung der Fiat-Werke italienweit – und später gar europaweit – führte.

Durch die gewichtige Rolle von FIAT-FCA im italienischen Kapitalismus hatte dieser Protest einen starken Beispielcharakter auch für andere Sektoren. So mussten auch einige andere Unternehmen aufgrund der als Protestform gewählten hohen krankheitsbedingten Abwesenheitsquote „schließen“. Daraufhin reagierte der Staat: Das nationale Sozialversicherungsamt INPS übte Druck auf die Hausärzt*innen aus und erteilte ihnen die Weisung, die Arbeiter*innen nicht mehr so leichtfertig krankzuschreiben, um die Arbeitsabsenzen zu beschränken.

In diesen ersten Wochen des Lockdowns erlebte Italien also über das gesamte Territorium verteilt einen weitreichenden und diffusen Ungehorsam. Es handelte sich nicht um offensive Kämpfe, sondern vielmehr um einem Widerstand der Arbeiter*innen gegen den neuen Druck einer Arbeit in Zeiten des Coronavirus. In den Kämpfen stand der Schutz des Lebens der Arbeiter*innen vor jedem anderen (ökonomischen) Bedürfnis. Innerhalb weniger Stunden wurde den Arbeiter*innen bewusst: Die Unternehmen behandelten die Arbeiter*innen schlicht als stets zur Verfügung stehende „Waren“; für sie waren die Wirtschaftszahlen wichtiger als die Leben „ihrer“ Arbeiter*innen; und sie waren weiterhin bereit, eine Wirtschaftsentwicklung zu verteidigen, die für die Unternehmen volle Taschen, für die Menschen jedoch – letztlich – den Tod bedeutete.

Eine mögliche Wiederaufnahme dieses Widerstands der Arbeiter*innen in Form von öffentlich ausgetragenen Kämpfen oder mittels versteckter Formen des Widerstands als „weapons of the weak“, wie es die amerikanische Soziologin Beverly Silver in ihrem Werk Forces of Labor (2003) beschrieben hat, prägte die politische Debatte darüber, welche Sektoren als essentiell und lebensnotwendig zu bezeichnen sind und welche nicht.

Obwohl die Regierung zunächst nicht auf die Forderungen nach einer unmittelbaren Wiedereröffnung der industriellen Produktion des Unternehmensverbandes Confindustria einging, lenkte sie jetzt in vielen Punkten dennoch ein. So bedeutet die von der Regierung angekündigte Phase 2 eine Wiederaufnahme der industriellen Tätigkeiten und gleichzeitig eine Fortsetzung des Lockdowns – auch wenn in gelockerter Form – für die Menschen im Alltag.

Phase 2: Weiterführung der Produktion und Rückgriff auf soziale Sicherungsnetze

Nach den ersten zwei Wochen im Lockdown änderte sich die Situation. Die Streiks nahmen rasant ab. Grund dafür war in erster Linie ein infames „Protokoll über die Sicherheit an den Arbeitsplätzen“, das Regierung, Unternehmensverband und Gewerkschaften am 14. März unterzeichneten. Mit diesem „sozialpartnerschaftlich“ unterzeichneten Protokoll gab die Regierung in dem Moment, in dem Millionen von Arbeiter*innen für die vorübergehende Schließung der Produktion kämpften, den Unternehmen die Möglichkeit, sie auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter*innen weiter laufen zu lassen. Den Arbeiter*innen blieb also nichts anderes übrig, als weiterhin den individuellen Weg der Arbeitsabwesenheit (Krankheit, Urlaub, Spezialabsenzen) zu wählen. Darauf wurde vor allem dort zurückgegriffen, wo die kollektiven und öffentlich ausgetragenen Kämpfe verloren wurden und die Produktion weiter lief, wo nicht auf smart working zurückgegriffen werden konnte und wo die nötigen Schutzdispositive (Schutzmasken, Handschuhe, Desinfizierung der Arbeitsplätze und so weiter) nicht eingeführt wurden. Auch wenn der Handlungsspielraum der Arbeiter*innen dadurch wesentlich eingeschränkt war, stellte diese Kampfform der Arbeitsabwesenheit weiterhin ein starkes Signal dar: Sie legte die kapitalistische Logik offen, in der die Garantie von Profit in Antithese zur Verteidigung des Lebens steht.

Viele Unternehmen wurden durch die Bedrohung der Arbeitskämpfe und den gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, gesundheitliche Schutzdispositive einzuführen; andere Unternehmen argumentierten jedoch mit der Möglichkeit des Arbeitsplatzverlusts für die Lohnabhängigen. Sie nutzten damit die Angst vor Arbeitslosigkeit aus, um die Produktion weiterzuführen; ganz so, als ob nichts wäre. Viele Arbeiter*innen berichteten über das „rote Telefon“ von Potere al Popolo, dass sie gezwungen waren, gegenüber der Polizei Falschaussagen zu machen, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Dies war beispielsweise oft bei irregulär Arbeitenden der Fall, die über keinen Arbeitsvertrag verfügen und daher rechtlich betrachtet gar nicht zur Arbeit fahren durften.

Ein weiteres seit Beginn der Pandemie mögliches Instrument zur Weiterführung der Produktion seitens der Unternehmen war die Beantragung einer Spezialbewilligung bei den Präfekturen – also den Vertretungen des Innenministeriums in den Provinzen. Diese Ausnahmeregelungen wurden so offen formuliert und die Kontrollen in den Betrieben so unzureichend durchgeführt, dass es de facto für die Unternehmen einfach war, straffrei weiter zu produzieren.

Von dieser Möglichkeit der Ausnahmeregelung machten bis Ende April über 196.000 Unternehmen Gebrauch, wobei nur in sechs Prozent der Fälle die Anfrage abgelehnt wurde. Den Unternehmen wurde gestattet, in der Zeit zwischen der Einreichung und der Prüfung des Antrages wieder zu öffnen. Es handelte sich dabei um eine lange Zeitdauer wenn man bedenkt, dass die Präfekturen bisher weniger als 50 Prozent der Gesuche bearbeitet haben.

In dieser zweiten Phase versuchten diejenigen Arbeiter*innen, die tatsächlich nicht zur Arbeit fahren konnten, sozialstaatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten. Es gab einen regelrechten Ansturm auf das Kurzarbeitsgeld und auf den Bonus von 600 Euro für Selbständige. Im Wesentlichen formulierten die Arbeiter*innen zwei Forderungen: Erstens die Integration derjenigen Klassensegmente in die sozialstaatlichen Hilfsleistungen, die von den bestehenden Versicherungen ausgeschlossen sind. Zweitens die Entwicklung neuer sozialstaatlicher Instrumente für die Ausgeschlossenen; dazu gehören vor allem die Forderungen nach einem Notlage-Grundeinkommen (reddito d’emergenza), die kollektive Regularisierung von papierlosen Arbeitsmigrant*innen, die zeitliche Ausdehnung der Arbeitslosenentschädigung und Spezialzahlungen für Care-Arbeiter*innen.

Die Maßnahmen der italienischen Zentralregierung wurden ergänzt durch Maßnahmen der einzelnen Regionen, doch noch heute warten aufgrund der Trägheit der institutionellen Prozesse Millionen von Arbeiter*innen auf den Zugang zu ihren Rechten. Dabei geht es nicht um ein blindes Hoffen auf die Gutmütigkeit der Regierung. Es geht darum, dass die Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeiter*innen tatsächlich beschlossen wurden und also alle Arbeiter*innen ein Recht darauf haben, auch wenn die Maßnahmen letztlich ungenügend bleiben werden.

Obwohl die Regierung stets verspricht, „schnell zu handeln“, spielt sie auf Zeit. Das angekündigte April-Dekret, das die Lücken der vorherigen Dekrete schließen sollte und sowohl Liquiditätshilfen für Unternehmen als auch die Aufstockung der sozialstaatlichen Hilfeleistungen vorsah, wird nun doch erst Anfang Mai verabschiedet. Die wachsende Wartezeit schränkt aber die Möglichkeit größerer Mobilisierungen ein, die Arbeiter*innen beschränken ihre Forderungen fast ausschließlich auf ihre jeweiligen Berufskategorien.

Phase 3: Die Unternehmen nehmen die Produktion wieder auf – und die Arbeiter*innen ihren Kampf?

Mit der letzten April-Woche fand auch die „Generalprobe“ auf die Wiedereröffnung der Produktion statt. Der Wiederaufnahme zahlreicher bis dahin noch geschlossener Tätigkeiten gingen nationale und/oder lokale Abkommen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften über die Notwendigkeit der Umsetzung wichtiger Sicherheitsmaßnahmen voraus.

Viele dieser Abkommen wurden von den Medien hoch gelobt. So konnte der Widerspruch zwischen Profit der Unternehmen und der Gesundheit der Arbeiter*innen, welcher in den ersten Wochen des Pandemieausbruchs mit beispielloser Klarheit zutage getreten war, wieder verschleiert werden. FIAT-FCA, Electrolux, Whirlpool und viele andere Großunternehmen wurden als Vorbilder präsentiert: Die Unternehmen kümmerten sich um die Gesundheit der Arbeiter*innen! Oder gar noch zynischer: sei sei sogar eine absolute Priorität des „italienischen Geschäftsmodells“!

Viel wahrscheinlicher, als diese Heilsbotschaft suggeriert, ist jedoch eine Intensivierung des Klassenwiderspruchs in dieser dritten Phase. Sie ist ein neuer Kampfzyklus zur Verteidigung der Gesundheit, der die Logik des Lebens vor die Logik des Profits stellen wird. Es wird sich aber nicht um ein „zurück zur Phase 1“ handeln: Zum einen, weil die präventive Repression es schwierig gemacht hat, die kämpfenden Arbeiter*innen materiell zu unterstützen (ein Streik kann zwar ausgerufen und praktiziert werden, doch ihn mit einem Streikposten oder gar mit einer Demonstration zu unterstützen ist nach wie vor sehr schwierig). Andererseits auch deshalb nicht, weil die ökonomische Krise immer spürbarer wird und seit rund einem Monat die Angst um die Zukunft für viele Menschen real und immer erdrückender geworden ist.

Die im Protokoll vom 14. März vorgesehenen Organe, die sogenannten „Kontrollausschüsse“ für die Durchsetzung von Maßnahmen, haben ihre Arbeit in den einzelnen Unternehmen de facto nicht flächendeckend aufgenommen; in nur 40 Prozent aller Unternehmen wurden sie tatsächlich gegründet. Dort, wo sie existieren, bleiben sie aber nach wie vor untätig. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die gewerkschaftlichen und sicherheitstechnischen Vertretungen der Arbeiter*innen in den Betrieben – rappresentanze sindacali unitarie (RSU), rappresentanza sindacale aziendale (RSA), rappresentante dei lavoratori per la sicurezza (RLS) sind drei betriebliche Arbeiter*innenorgane, die mit den deutschen Betriebsräten verglichen werden können – zur Zielscheibe nicht nur der Unternehmensleitungen werden könnten, sondern auch der Arbeiter*innen selbst. Und zwar deshalb, weil viele Arbeiter*innen aufgrund der Angst vor einer schweren ökonomischen Krise und einem allfälligen Jobverlust trotz der gesundheitlichen Risiken dem Motto des Unternehmensverbandes Confindustria – „Arbeit um jeden Preis“ – Folge leisten könnten. Dies wird insbesondere in denjenigen Betrieben passieren, in denen die Arbeiter*innenvertretungen die Stimme der Unternehmensleitung repräsentieren und dort, wo die Gewerkschaften ganz abwesend sind.

Das Risiko besteht darin, dass in den Unternehmen Bedingungen stillschweigend akzeptiert werden, die schädlich sind für die Gesundheit der Arbeiter*innen. Die Repressions- und Erpressungsmöglichkeiten der Unternehmen haben sich vervielfacht: die Drohung der Betriebsschließung oder der Verringerung des Arbeitsvolumens, der Verlust von Marktanteilen, die Verwendung einer selektiven Kurzarbeit, die sogenannten „Störenfrieden“ oder den als nicht funktional definierten Arbeiter*innen auferlegt werden; die Verweigerung von smart working aus nicht objektiven Gründen, sondern als „Strafe“; und nicht zuletzt die Androhung von Entlassungen, sobald den Unternehmen das Recht dazu wieder eingeräumt wird (im Dekret „Cura Italia“ wurde ein Kündigungsverbot bis Mitte Mai verabschiedet, das im April-Dekret bis zum Ende der Pandemie verlängert werden soll). Es ist also von wesentlicher Bedeutung, dass im April-Dekret das Kündigungsverbot erneuert und die staatliche Unterstützung von Unternehmen an Bedingungen geknüpft wird. Ansonsten werden sie – wie schon so oft – neue finanzielle Unterstützungsleistungen dazu nutzen, um zu einem späteren Zeitpunkt Kündigungen auszusprechen oder „Restrukturierungen“ vorzunehmen.

Was tun in der offiziellen „Phase 2“?

Aufgrund des gezeichneten Szenarios müssen wir davon ausgehen, dass die Konflikte, die an den Arbeitsplätzen ausbrechen werden, entscheidend sein werden für die Zukunft unserer Klasse. Dabei spielt es keine Rolle, ob es diese Arbeitskämpfe an die Öffentlichkeit schaffen oder ob sie mehrheitlich eher „unterirdisch“ verlaufen – sie werden auf jeden Fall spürbar sein. Was sind nun unsere Aufgaben als linke Organisationen angesichts dieser neuen Phase? Was ist „unsere“ Phase 3, die wir ihr vorausschicken?

Quelle:

re:volt magazine

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