Der Nachholbedarf ist groß

Im reichen Luxemburg ist inzwischen jeder sechste Haushalt entweder von Armut bedroht, oder er lebt bereits in Armut. Eine beschämende Entwicklung, von der von Jahr zu Jahr immer mehr Familien betroffen sind. Als armutsgefährdet betrachtet werden von den EU-Institutionen jene Menschen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens beträgt. Ein Wert, der vor Monaten hierzulande bei rund 2.380 Euro lag. Das Medianeinkommen teilt die Einkommensbezieher in zwei Gruppen, die eine Hälfte verdient mehr als das mittlere Einkommen, die andere weniger.

Besonders gefährdet sind Familien aus sozial schwachen Kreisen, Immigranten, kinderreiche Familien und Alleinerziehende. Deren Lage hat sich in den letzten Jahren derart zugespitzt, dass ohne Sozialhilfen weitere zig Tausende größte Probleme hätten, um allmonatlich über die Runden zu kommen.
Wenn von Armut die Rede ist, ist meistens die monetäre Armut gemeint. Daneben gibt es allerdings auch die Armut der Lebensbedingungen sowie die Existenzarmut, wenn es Haushalten unmöglich ist, wegen fehlender finanzieller Mittel Bedürfnisse zu befriedigen, die für ein Leben in Würde unentbehrlich sind. Nicht ausreichende oder ungesunde Ernährung, Gesundheitsdefizite, mangelhafte Bildung, fehlende gesellschaftliche Teilhabe sowie zumeist schlechte Wohnverhältnisse sind in der Regel die Folge.

Dass sich die soziale Situation vieler Haushalte derart verschlechtert hat, hat mehrere Gründe, wobei Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, horrende Mietpreise, sinkende Reallöhne und das Schrumpfen der Kaufkraft als Hauptursachen des zunehmenden Armutsrisikos anzuführen sind.

Eine spürbare Wende zum Positiven ist nicht zu erwarten. Dazu ist der Nachholbedarf ganz einfach zu groß. Was auch erklärt, dass sowohl das Anheben des Steuerkredits wie auch die verschiedenen Erleichterungen für Alleinerziehende – begrüßenswerte Maßnahmen, die allesamt im Rahmen der Steuerreform erfolgten – nicht dazu beitrugen, die prekäre Situation vieler Bedürftigen merklich aufzubessern.
Nun soll zum Jahresanfang endlich auch der Mindestlohn angehoben werden. Und zwar um 100 Euro netto, wobei angeblich ein Drittel zu Lasten des Patronats und zwei Drittel zu Lasten des Staats (Steuern) gehen werden. Wenn auch jede Lohnaufbesserung zu begrüßen ist – besonders wenn in diesem speziellen Fall die Schwächsten davon profitieren werden –, so darf dennoch nicht verschwiegen werden, dass ein Anheben um 100 Euro netto bei weitem nicht dem Nachholbedarf entspricht, den die Salariatskammer vor mehreren Jahren errechnet und die Kommunisten dazu bewogen hatte, eine Aufbesserung des Mindestlohns um 20% zu fordern.

Damit bedürftigen Familien wirklich spürbar aus der Not geholfen werden kann, müssen weitere Verbesserungen folgen. So sollten beispielsweise als Sofortmaßnahmen alle Familienleistungen wieder an den Index gebunden, die Steuertabellen ein jedes Jahr an die Inflation angepasst, die Altersgrenze beim REVIS (RMG) abgeschafft, der »Tiers payant généralisé« eingeführt, und die Teuerungszulage aufgewertet werden – sie wurde seit 2009 nicht mehr angepasst und hat, ähnlich wie alle Familienleistungen, 16 Prozent an Wert verloren.
Doch zu all diesen Maßnahmen werden sich DP, LSAP und Grüne in den laufenden Koalitionsverhandlungen sicherlich nicht durchgerungen haben. Ansonsten sie mit gezielten Diskretionen dafür gesorgt hätten, dass das bereits lange vor dem für den 5. Dezember erwarteten Abschluss der Koalitionsverhandlungen bekannt geworden wäre.

gilbert simonelli

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek