Das Wunder vom Bosporus

Screenshot: Ukraine TodayWährend in der Ukraine auch über eine Woche nach den Kommunalwahlen immer noch die Wahlergebnisse ausgewürfelt werden, ist am Bosporus am Sonntag ein wahres Wunder geschehen. Kaum waren die Wahllokale geschlossen, da verkündeten alle Sender bereits, daß die regierende islamistische Partei AKP des Herrn Erdogan die Parlamentswahl nicht nur haushoch gewonnen hat, sondern sogar die absolute Mehrheit zurückgewinnen konnte.

Während wir bei Wahlen in anderen Ländern daran gewöhnt sind, daß sich die Ergebnisse vom Zeitpunkt der ersten Schätzung im Laufe der Auszählungen noch etwas verschieben, stand das Ergebnis der türkischen Wahlen quasi wie in Stein gemeißelt fest. Beinahe beschwichtigend kommt dann die Meldung, daß es dennoch nicht für eine Zwei-Drittel-Mehrheit gereicht hat – was aber Erdogans Premierminister nicht daran hindert, wenige Stunden nach der Wahl eine Verfassungsänderung und mehr Macht für seinen Herrn zu fordern.

Am Ergebnis wird nun nichts mehr zu rütteln sein. Da nützt es auch nichts, wenn eine Menge Indizien dafür sprechen, daß bei diesen Wahlen nach Strich und Faden betrogen wurde. Augenzeugen berichten von massiven Einschüchterungen der Wähler, vor allem durch ständige Präsenz bewaffneter Polizisten und Geheimdienstleute in und vor den Wahllokalen oder sogar drohend postierte Schützenpanzerwagen. Diese Kriegsgeräte sind vor allem den Bewohnern der kurdischen Gebiete sehr gut bekannt, denn damit wurden in den Wochen vor der Wahl nicht wenige kurdische Städte und Dörfer überfallen, beschossen, belagert. Natürlich keineswegs mit der Absicht der Einschüchterung, sondern stets nur im tapferen Kampf gegen Terroristen.

Für den Krieg gegen die – auch in vielen Ländern der EU verbotene – Arbeiterpartei Kurdistans wurden auch Kriegsflugzeuge der türkischen NATO-Armee eingesetzt, die angebliche oder vermutete Stützpunkte der PKK auf türkischem, syrischem und irakischem Gebiet bombardierten. Daß die PKK nicht nur begonnen hatte, mit Vertretern des Staates zu verhandeln, sondern darüber hinaus mehrmals Waffenruhen verkündet hatte, war da eigentlich nur ein störendes Detail am Rande.

Den Wahlsieg vom Sonntag läßt sich Sultan Erdogan nicht mehr nehmen. Und er kann darauf bauen, daß auch die EU und die OSZE ihm in Treue fest den Rücken stärken. Schließlich wird der Mann gebraucht. Zur Durchsetzung der Anti-Flüchtlingspolitik à la EU , wofür Kommissionschef Juncker ihm vorsorglich schon mal schlappe drei Milliarden Euro zugesagt hatte. Auch das ist ein nicht geringes Wunder. Zwar ist die Türkei seit Februar 1952 treues Mitglied der NATO, wird jedoch von der EU nicht als würdig für eine Mitgliedschaft im europäischen Klub angesehen. Beitrittsverhandlungen werden zwar seit vielen Jahren geführt, doch der Kommissionschef persönlich hat mehr als einmal erklärt, daß er für das Land keine Beitrittsperspektive erkennen kann.

Gleichwohl begrüßte die EU die angeblich hohe Wahlbeteiligung am Urnengang, was fast einem Ritterschlag gleichkommt. Denn für den Krieg und den angestrebten Sturz des Präsidenten im Nachbarland Syrien ist die Türkei ein wichtiger Partner, was Erdogan & Co. schon mit der gar nicht so heimlichen Unterstützung für den IS und andere bewaffnete Assad-Gegner bewiesen haben. Und die dankten es dem Paten, indem sie der AKP brav zum Wahlsieg gratulierten und die Türkei als »Vorbild für die Region« bezeichneten. Das wiederum ist kein Wunder.

Leitartikel der »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« vom 3. November