“Es braucht einen langen Atem und einen flexiblen, kreativen und ausdauernden Kampf”

Interview mit Max Zirngast. Wir haben kurz vor dem Prozesstermin von Max Zirngast, der am 11. September – genau ein Jahr nach seiner Festnahme – in Ankara stattfinden wird, mit ihm über die derzeitigen Entwicklungen in seinem Fall, aber auch die politischen Lage in der Türkei insgesamt gesprochen.

Vor knapp einem halben Jahr fand der erste Prozesstermin gegen dich und die drei weiteren Angeklagten statt. Wie hast du die Zeit seither wahrgenommen? Welche Herausforderungen gab es?

Es ist in der Türkei üblich, dass sich Prozesse in die Länge ziehen. Lange Wartezeiten von einem Gerichtstermin zum nächsten sind üblich. Im Grunde gibt es in dieser Zeit keine Veränderungen, was den Prozess selbst betrifft. Die Vertagung erfolgte in erster Linie nur, um noch einmal die Meinung des Staatsanwalts einzuholen, nachdem wir, die Angeklagten, unsere Aussagen zur Anklage gemacht hatten. Des Weiteren wäre es möglich, dass der Akt meines Mitangeklagten und Freundes Mithat (Mithatcan Türetken, der gemeinsam mit Max in derselben Zelle saß, Anm. Red.) von den anderen (also unseren) getrennt und mit einem weiteren Verfahren gegen ihn in Hatay aus dem Jahr 2017 zusammengelegt wird. Wie die Einschätzung des Staatsanwalts ausfallen wird, und ob Mithats “Fall” weiterhin gemeinsam mit uns bearbeitet wird – all das sind Dinge, die erst beim Gerichtstermin am 11.September bekannt werden.

Kurz gesagt also, diese Zwischenzeit ist eine Zeit des Wartens, in der nichts passiert, aber Ungewissheiten weiter bestehen bleiben. Dazu zählen etwa meine unsichere rechtliche Situation,genauso wie die Ausreisesperre, also dass Verbot, aus der Türkei auszureisen. Dies führt zu einer Unplanbarkeit und Ungewissheit, was mein weiteres Leben betrifft – und damit verbunden auch die Lebensplanungen meiner Nächsten. Auch wenn es nicht Gefängnis ist und ich mich innerhalb der Türkei relativ frei bewegen kann, ist es trotzdem eine zermürbende Phase und je länger sie dauert, desto anstrengender wird es. Aufgrund meines quasi nicht vorhandenen Rechtsstatus’ besteht außerdem eine permanente Unsicherheit im Alltag.

Kannst du ein Beispiel machen?

Ich kann zum Beispiel mein Studium nicht aufnehmen und bin auch nicht versichert, weil ich für beides einen Aufenthaltstitel bräuchte, den ich aber jetzt nicht bekomme. Ich kann nicht einmal die App meines Bankkontos benutzen, weil ich dazu meine Telefonnummer ändern muss – und dafür bräuchte ich wiederum einen Aufenthaltstitel.

Das wird auch im Alltag sichtbar, und nimmt manchmal recht abstruse Züge an. Es gab s einen Fall, wo mir am Bahnhof in Ankara partout kein Zugticket nach Eskişehir verkauft wurde. Und das, obwohl ich gerade aus dem Zug aus Istanbul ausgestiegen war. Ich bräuchte einen gültigen Aufenthaltstitel, um das Ticket zu kaufen, hieß es. Dann wurde ich vom Schalter an irgendeine höhere Stelle verwiesen, von der ich dann wiederum zu hören bekam, ich bräuchte eine Reisegenehmigung innerhalb der Türkei. Obwohl nach meiner Entlassung schon in mehreren Städten mein Ausweis von Polizei oder Gendarmerie kontrolliert wurde und nie ein Problem auftrat. Das ist das Unberechenbare daran, und es zwingt mich zudem dazu, mich immer wieder öffentlich an Stellen, wo man unter “normalen Umständen” jetzt nicht unbedingt mit seiner Lebenssituation hausieren gehen müsste, Rechtfertigungen und Erklärungen anbringen zu müssen. Das Absurdeste an der ganzen Sache: Ich ging dann nach Hause und kaufte mir das Zugticket einfach im Internet, sogar noch um eine Lira günstiger. Probleme dieser Art lassen sich in der Türkei in der Praxis meist irgendwie lösen, aber es kann trotzdem nervig sein.

Es ging bei der ersten Verhandlung ja vor allem darum, eure Statements aufzunehmen. Das, was man normalerweise Verteidigungsreden nennt. Ihr habt es aber allesamt dazu verwendet, euch politisch zu äußern, eure Haltung gegenüber den unsäglichen Vorwürfen deutlich zu machen. Inwiefern hat die Inhaftierung und der Prozess auf deine politische Überzeugung gewirkt? Kann man das an etwas Spezifischem festmachen?

Selbst wenn ich wollte, könnte ich ja zu “Vorwürfen” nicht wirklich Stellung nehmen, weil es außer absurden Behauptungen ja keine Substanz in der gesamten Anklage gibt. Abgesehen von unseren politischen Statements haben wir auch alle betont, dass wir die Aktivitäten, die in der Anklage aufgelistet sind, auch gemacht haben und warum wir sie gemacht haben. Warum sollten wir auch das Verfassen von Artikeln und gesellschaftliches und politisches Engagement für soziale und demokratische Rechte, gegen die Unterdrückung von Frauen, für Kinderrechte und bessere Bildung, Ökologie, Kunst und Kultur und dergleichen leugnen?

Über die Auflistung dieser Aktivitäten, die ja vom Staatsanwalt selbst in der Anklage als nicht nur nicht strafrechtlich relevant, sondern sogar als vorbildlichen Tätigkeiten, die auch vom Staat unterstützt werden müssten, bezeichnet werden, wird dann aber wie aus dem Nichts der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation konstruiert. Das mirakulöse Wesen dieser Anklage wird noch dadurch verstärkt, dass selbst im ausführlichsten Polizeibericht zur Organisation in Frage ab 2012 keine einzige Aktion mehr aufgelistet ist und es sich auch schon Jahre davor um “Aktionen” wie das Aufhängen eines Plakates oder Graffitis and Mauern handelte. Auf solche Anschuldigung könnte ich, selbst wenn ich wollte, nicht antworten. Deswegen war es wichtig, auch vor Gericht die politische Motivation der Anklage hervorzuheben, die ja im Grunde nicht vom Staatsanwalt, sondern von der Antiterrorpolizei, das heißt, der politischen Polizei erstellt wurde.

An meiner politischen Überzeugung hat sich nichts geändert, denn Prozesse dieser Art sind in der Türkei ja “normal”. Nichts daran ist neu, alle Vorwürfe sind Standard, genauso wie der Verlauf des Prozesses bisher. Es ist nur die Frage ob es einen trifft oder nicht, das ist dann wie eine Lotterie. Da es mich diesmal persönlich betroffen hat, habe ich Einblick in das Justizsystem und natürlich auch in die Gefängnisstruktur “von innen” bekommen. Wenn es irgendetwas gebracht hat, dann, dass es mein Verständnis von diesen ganzen juristischen Angelegenheiten vertieft hat, weil ich mich ja notwendigerweise mit all dem auseinandersetzen musste.

Wie bist du in der Zwischenzeit politisch aktiv gewesen?

Nicht wesentlich anders als zuvor. Ich schreibe weiterhin auf Deutsch, Englisch und Türkisch zur Türkei und zu anderen Themen und unterstütze demokratische Initiativen. Ich habe mit anderen Kolleg_innen eine neue Internetseite auf Türkisch ins Leben gerufen, elyazmalari.com, was soviel heißt wie “Handgeschriebenes”. Auf dieser Seite versuchen wir, die Debatten um eine Demokratisierung der Türkei, um sozialistische Alternativen und viele weitere Themenfelder zusammenzufassen. Außerdem ist natürlich der Sammelband mit vielen journalistischen Arbeiten von mir und anderen erschienen, der zudem auch eine ausführliche Darstellung meiner Inhaftierung und Anklage und des damit verbundenen Prozesses beinhaltet. Das Buch ist ein kollektives Produkt und die Solidaritätskampagne hat am Erscheinen großen Anteil. Deswegen auch von hier aus nochmal einen großen Dank an alle Beteiligten, ohne deren unermüdliche editorische und organisatorische Arbeit das Buch nicht erschienen wäre.

Zentraler Teil des Sammelbandes sind ja die Türkeianalysen, die du zumeist gemeinsam mit deinen Kollegen Alp Kayserilioğlu und Güney Işıkara verfasst hast. Wie hast du Veränderungen hinsichtlich des politischen Klimas in der Türkei der letzten Monate wahrgenommen?

Die letzten Jahre waren in der Türkei durchgehend turbulent. Das hat sich nicht groß verändert. Bei den Lokalwahlen Ende März und dann bei der wiederholten Wahl in Istanbul hat das Regime jedoch eine schwere Niederlage einstecken müssen. Da die Opposition in erster Linie eine systemimmanente und an den Staat gebundene Funktion hat, hat sie es wieder einmal verabsäumt, die notwendigen fundamentalen Schritte vorwärts zu machen, um das Regime weiter zurückzudrängen. Sie hat diesem vielmehr den notwendigen Raum gelassen, in dem sich das Regime wieder erholen konnte. Erdoğan und seine Verbündeten brachten indes einige Themen auf die Tagesordnung, die sehr clever gewählt waren: Sie zogen damit die Opposition teilweise auf ihre Seite und verhinderten andernorts Fundamentalopposition. Als Beispiel kann man den Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 herbeiziehen. Dabei ging es dann, laut Regime, um den Schutz der Türkei und des türkischen Staates als solchen, ein Thema, dem sich die gemäßigte Opposition nicht entgegenzustellen wagt. Des Weiteren trieben sie auch eine deutlich verstärkt rassistische Politik gegen syrische Migrant_innen voran, die dann vor allem der “gemäßigt-faschistische” Flügel der “Opposition” (nämlich die MHP-Abspaltung IYI Parti) noch weiter anheizte. Oder eben auch der Zivilputsch gegen die gewählten HDP-Oberbürgermeister_innen in Diyarbakır, Mardin und Van, die von den nationalistischen Teilen der Opposition teilweise unterstützt, teilweise stillschweigend hingenommen wurden.

Die Folge davon war, dass der in sich widersprüchliche Oppositionsblock, der bei den Lokalwahlen dem Regime einen herben Schlag versetzt hatte, gespalten wurde. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil letztendlich sowohl eine genuin demokratische, populare Tendenz zur Opposition gehört, wie auch restaurative Kräfte, die Staat und Gesellschaft in der Türkei “verbessern”, “reparieren” wollen. Auch sind die Grenzen zwischen dem Restaurationsblock und der Regimeallianz teilweise fließend. Von Oppositionsseite aus wäre es notwendig gewesen, die Tagesordnung zu bestimmen, wenn möglich natürlich mit einem möglichst popularen Impuls. Die Wirtschaft der Türkei schrumpft seit drei Quartalen auch nach offiziellen Statistiken, die wirtschaftliche Krise ist nicht zu leugnen und ein Großteil der Bevölkerung spürt diese Krise im Alltagsleben sehr intensiv. Aber statt dies zum Hauptthema zu machen, überließ die Opposition dem Regime den Raum und verlor dadurch die Initiative.

Zum Anderen gibt es aber auch positive Tendenzen, zum Beispiel eine offensichtliche Unzufriedenheit und offene Opposition im Justizapparat. Vor allem Anwaltskammern haben ihre Opposition ganz offen ausgedrückt, es wurde aber auch in den kürzlich gefällten Urteilen deutlich: Eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes fiel im Sinne der Friedensakademiker_innen, ein anderes im Sinne des inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş. Nicht zuletzt weigerten einige Mitglieder des obersten Gerichtshofes sich, zur Eröffnung des juristischen Jahres in den Präsidentenpalast zu gehen. Dies spricht für die Konflikte verschiedener Fraktionen und Tendenzen innerhalb der Staatsapparate.

Politische und gesellschaftliche Entwicklungen in der Türkei sind immer komplex, verschiedene und widersprüchliche Tendenzen bestehen gleichzeitig, Allianzen können sich schnell formen und wieder auflösen, positive und negative Entwicklungen können gleichzeitig vor sich gehen. Die grundlegende Hegemoniekrise besteht aber weiterhin. Aufgrund des vehementen und trotz aller Repression fortbestehenden Einspruches der popularen Kräfte kann diese Krise nicht gelöst werden und führt auch zu offenen Widersprüchen innerhalb der herrschenden Fraktionen in Staat und Gesellschaft darüber, wie mit dieser Krise umgegangen werden soll. Aber keine der Tendenzen, also weder die eher “demokratisch”-restaurative, noch die repressive bis faschistische Tendenz, hat die Situation signifikant zu ihren Gunsten entscheiden können und das wird auch noch länger so bleiben, sollte nichts Außergewöhnliches passieren. Die genuin demokratischen, popularen Kräfte sind auch immer noch da, aber es mangelt ihnen an politischer Subjektivität für eine notwendige Offensive. Aber selbst wenn es derzeit vielerorts defensive Reaktionen sind: Die Widerstandsfähigkeit dieser gesellschaftlichen Dynamiken ist von den Herrschenden einfach nicht wegzukriegen und der Erfolg der Opposition, sei sie auch systemimmanent und restaurativ, verdankt sich in erster Linie diesen popular-demokratischen Wünschen, Forderungen und Reflexen. Für wirklichen Fortschritt braucht es einen langen Atem und einen flexiblen, kreativen und ausdauernden Kampf.

Die Solidaritätskampagne hat ja immer wieder auch die österreichische Regierung in den Blick genommen, hier klare Schritte zu deiner Unterstützung gefordert. Wie sieht es damit aus?

Ich kann weiterhin wenig zu den konkreten Schritten des Staates Österreich und seiner Vertreter_innen sagen, weil diese großteils – durchaus auch verständlicherweise – nicht mit mir geteilt werden. Zweifellos gibt es individuelle Vertreter_innen des Staates, die sich im Rahmen ihrer Mittel für mich einsetzen. Die allgemeine Haltung ist immer noch die der sogenannten “stillen Diplomatie”, wobei das konkret sehr Unterschiedliches bedeuten kann.

Aber ich kann es dennoch nicht oft genug betonen: Der unermüdliche und konsequente Einsatz der Solidaritätskampagne und vieler Individuen, die mich von Anfang an unterstützt und auf meinen Fall aufmerksam gemacht und ihn in der Öffentlichkeit gehalten haben beeinflusst auf jeden Fall stark, wie sehr sich offizielle Stellen bemühen.

Welche Unterstützung erhoffst du dir für den Prozesstermin kommenden Mittwoch?

In erster Linie Berichterstattung und zwar vor allem solche, die weniger auf den individuellen Charakter konzentriert ist, sondern darauf, dass unser Prozess nur einer unter vielen ist und diese Formen von Unterdrückung und Schikane in der Türkei gegen demokratische, sozialistische Kräfte, Initiativen, Intellektuelle und viele weitere oppositionelle Menschen System hat.

Persönlich freut es mich natürlich sehr, dass meine Familie, viele Freund_innen, internationale Beobachter_innen und Vertreter_innen der Solidaritätskampagne dabei sein werden. Das ist eine großartige Unterstützung, weit über die Gerichtstermine hinaus.

Wie, glaubst du, wird der Prozess insgesamt weitergehen? Gibt es Prognosen von anwaltlicher Seite?

Es wird höchstwahrscheinlich zu einer weiteren Vertagung kommen. Unter Umständen könnte die Ausreisesperre aufgehoben werden, was dann in erster Linie an meiner besonderen Situation und der internationalen Unterstützung festzumachen wäre.

Das Interview führte Johanna Bröse.

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