Übernommen von Unsere Zeit:

Ob Rente, Gesundheit, Pflege oder Bürgergeld, der Sozialstaat ist zu teuer. Zumindest könnte man dies glauben, wenn man die jüngsten Äußerungen aus Politik, Unternehmerverbänden und deren neoliberalen Think Tanks für bare Münze nimmt. Als jüngsten Beweis hierfür musste die Antwort des Bundessozialministeriums auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion herhalten. Demnach hat die Bundesrepublik im vergangen Jahr 46,9 Milliarden Euro für Bürgergeldzahlungen ausgegeben. Das waren rund vier Milliarden Euro mehr als im Jahr zuvor, was einem Anstieg von zirka 9,3 Prozent entspricht.
Für Politiker vom Schlage eines Markus Söder ist das eine Steilvorlage. „Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass jeder Arbeit annehmen muss, der arbeiten kann.“ Außerdem solle an Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits in Deutschland sind, kein Bürgergeld mehr gezahlt werden, wetterte der bayrische Ministerpräsident jüngst im ZDF-Sommerinterview.
Deutschland brauche schnell die im Koalitionsvertrag vereinbarte neue Grundsicherung, die Arbeit in den Mittelpunkt stelle, Vermittlung stärke und klare Mitwirkungspflichten vorsehe, hatte zuvor bereits der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Marc Biadacz, im „Handelsblatt“ gefordert. Das Bürgergeld setze falsche Anreize statt konsequent auf Arbeitsaufnahme und Eigenverantwortung zu setzen.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche drängt ebenfalls auf eine schnelle Reform. Alle, die dies könnten, müssten am Arbeitsmarkt teilnehmen „und sich einen Teil dessen, was sie zum Leben brauchen, eben auch verdienen“, so die CDU-Politikerin. Und Dirk Wiese, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, stellte gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ klar: „Wer das System ausnutzt, dem muss mit klaren Sanktionen begegnet werden.“
Dabei glaubt selbst im Kabinett Merz niemand mehr ernsthaft, dass durch Sanktionen der Bundeshaushalt saniert werden könne. Gerade einmal eine zweistellige Millionensumme wäre so einzusparen, war das ernüchternde Ergebnis eines Treffens der Koalitionsspitzen Anfang Juli im Kanzleramt.
Auch der finanzielle Nutzen, ukrainischen Flüchtlingen mit Einreisedatum nach dem 1. April kein Bürgergeld mehr auszuzahlen, sondern nur noch Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, erweist sich bei näherer Betrachtung als Nullsummenspiel. Laut eines Berichts der Deutschen Presse-Agentur (dpa) soll der in der vergangenen Woche vorgestellte Gesetzentwurf aus dem SPD-geführten Arbeits- und Sozialministerium dem Bund, Ländern und Kommunen für 2026 zwar Einsparungen beim Bürgergeld sowie Hilfen zum Lebensunterhalt von 1,32 Milliarden Euro bringen. Dem stehen jedoch höhere Kosten beim Asylbewerberleistungsgesetz von 1,375 Milliarden gegenüber.
Auch der These der „unkontrollierten Zunahme“ der Ausgaben beim Bürgergeld wird von Arbeitsmarktexperten heftig widersprochen. So erklärt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) den jüngsten Anstieg nicht zuletzt mit den notwendigen Erhöhungen der Regelsätze 2023 und 2024 aufgrund der hohen Inflation. In diesem Jahr folgte eine Nullrunde. Gleiches erwartet das IAB für 2026.
Ein weiterer Aspekt, der in der Debatte gerne unterschlagen wird: Die Zahl der Aufstocker ist erstmals seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohn 2015 wieder gestiegen. Der Staat zahlte im vergangenen Jahr etwa 826.000 Erwerbstätigen zusätzlich Bürgergeld, weil ihr Einkommen nicht zum Leben reichte.
Die Ausgaben für dieses ergänzende Bürgergeld wuchsen nach Angaben des Sozialministeriums von 6,19 Milliarden Euro 2023 auf 6,99 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Darüber hinaus wurden sogenannte Bedarfsgemeinschaften – Familien oder Lebensgemeinschaften mit mindestens einem Aufstocker – 2024 mit insgesamt 11,61 Milliarden Euro unterstützt. An diese staatliche Alimentierung der Lohnkosten für Unternehmer wird weder Merz noch Klingbeil den Rotstift ansetzen. Stattdessen befeuert man die Legende vom ausufernden Sozialstaat und hetzt gegen vermeintlich faule Bürgergeldempfänger.
Quelle: Unsere Zeit

