Der Marsch auf Miraflores fiel aus

Eigenartige Wahrnehmung der Wirklichkeit: Freddy Guevara. Screenshot: FacebookFreddy Guevara, Vizepräsident der Nationalversammlung und derzeit häufigster Sprecher des venezolanischen Oppositionsbündnisses MUD, verkündete am Freitagabend (Ortszeit): »Heute wurde das gesamte Land lahmgelegt.« Zuvor hatten die Regierungsgegner zu einer »Besetzung von Caracas« und einem »Trancazo Nacional« aufgerufen. Letzteres sollte übersetzt wohl »Nationale Abriegelung« bedeuten, man könnte es laut Onlinewörterbuch »Pons« aber auch – passend – als »Knüppelschlag« oder als »landesweite Grippe« übersetzen. Für »krank« hielten auf der Facebook-Seite der MUD jedenfalls so einige Oppositionelle ihren Frontmann, denn selbst sie räumten ein, dass von einer »Abriegelung« des Landes keine Rede sein konnte.

Ein Henry Aguilera kommentierte etwa: »Nichts ist komplett abgesperrt worden. Zu behaupten, dass die gesamte Bürgerschaft an dem Prozess beteiligt war oder dass er bis in alle Winkel unserer Staaten spürbar gewesen wäre, weil eine große Zahl von Menschen auf die Straße gegangen sei, ist eine Lüge und eine Respektlosigkeit. Für viele im Land geht alles normal weiter. Mehr noch, die Effekte des Aufrufs von heute sind nicht spürbar, und das liegt daran, dass sie aufgrund ihrer so ärmlichen und wenig effektiven Proteststrategien an Schlagkraft verloren haben.«

Tatsächlich ist von den vollmündigen Ankündigungen der Opposition im Vorfeld der Proteste wenig übrig geblieben. So hatte Mirandas Gouverneur Henrique Capriles Radonski Demonstrationen in das Stadtzentrum und zu den Gebäuden der Regierung einschließlich des Präsidentenpalastes Miraflores angedroht. Selbst der kolumbianische Propagandasender »NTN 24«, der sonst jeden Protest der Rechten in Venezuela abfeiert, musste auf seiner Homepage einräumen: »Obwohl der Aufruf der Opposition lautete, die Straßen zu besetzen und auf ihnen zu bleiben, sind die Straßen leer. Nur einige wenige entschieden sich, die Regierung herauszufordern, die öffentliche Demonstrationen verboten hatte, um die Wahl zu schützen.«

Inzwischen lautet der Aufruf der MUD, bis heute mittag »auf der Straße zu bleiben« und sich dann zu Hause »auf Sonntag vorzubereiten«. Dann werde man sich auf der Francisco-Fajardo-Autobahn in Caracas und »auf den wichtigsten Straßen des Landes« versammeln: »Demonstrieren wir, dass wir Millionen sind, die Maduro und seine betrügerische Constituyente nicht akzeptieren«. Offenbar hat also selbst das Rechtsbündnis inzwischen akzeptiert, dass es die Wahl am Sonntag nicht verhindern kann.

In Venezuela zeigt sich so wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale, dass die Opposition deutlich geschwächt ist. Zwar können sich die Chefs der MUD auf internationale Fürsprecher stützen – so kündigte Kolumbiens Staatschef Juan Manuel Santos an, das Ergebnis der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung nicht anerkennen zu wollen –, doch auch Umfragen spiegeln den Rückgang der Unterstützung für die Opposition wider. Wie die Tageszeitung »Últimas Noticias« am Freitag unter Berufung auf das Meinungsforschungsinstitut ICS berichtete, werten 59,5 Prozent der Venezolaner die Einberufung der verfassunggebenden Versammlung als geeignetes Szenario, um einen Dialog in Gang zu setzen. 47,4 Prozent äußerten, dass die Wahl am Sonntag die von politischer Konfrontation gekennzeichnete Lage verbessern könnte.

Das Blatt zitierte ICS-Chef Ronald Sánchez mit der Einschätzung, dass die große Mehrheit der Gesellschaft einen Dialog zwischen den verschiedenen Seiten will und es ablehnt, dass diese sich in der Konfrontation eingraben. Ein Teil des in Venezuela als »Ni-Ni« (Weder noch) bezeichneten Lagers der Unentschlossenen, das bei den Parlamentswahlen 2015 mehrheitlich für die Opposition gestimmt hatte, habe sich inzwischen wieder von den Regierungsgegnern abgewendet und sehe den Vorschlag einer Constituyente positiv. Das mache sie nicht zu Chavistas, aber sie werteten die verfassunggebende Versammlung als die einzige sichtbare Alternative zur aktuellen Lage. 56,7 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, dass die sozialen Missionen Verfassungsrang erhalten sollten.

Im Gespräch mit »Últimas Noticias« schätzte Sánchez zudem ein, dass die Straßenaktionen der MUD dieser eher geschadet hätten. Die Beeinträchtigung des täglichen Lebens durch Gewalt, Barrikaden, Straßenkämpfe und Streikaufrufe habe der Opposition Ansehen gekostet, so der ICS-Chef.

Im Lager der Chavistas, unter denen viele zunächst durchaus skeptisch auf die Ankündigung der verfassunggebenden Versammlung reagiert hatten, machten sich zuletzt sogar Euphorie und Siegeszuversicht breit. In der Regierung scheint man sich jedoch wohl nicht sicher zu sein, ob die Beteiligung am Sonntag tatsächlich so hoch ausfallen wird, wie erhofft. Wie der Fernsehsender »Globovisión« berichtete, kündigte Präsident Maduro an, dass an den Wahllokalen auch die »Carnets de la Patria« erfasst werden sollen. Diese »Ausweise des Heimatlandes« wurden von der Regierung als eine Art paralleler Personalausweis eingeführt und erfassen, an welchen Missionen jemand beteiligt ist und welche Sozialleistungen er erhält. Zwar ist für die Wahlteilnahme nur der reguläre Personalausweis notwendig, doch man wolle anschließend auch ermitteln, wer von den nach offiziellen Angaben 15 Millionen Inhabern des Carnet an der Abstimmung teilgenommen habe, so Maduro. Kritiker werten das als Versuch, Empfänger von Sozialleistungen zur Teilnahme an der Wahl zu zwingen. Formell wäre es allerdings durchaus möglich, dass jemand zum Wahllokal kommt, dort sein Carnet registrieren lässt – aber nicht wählt. Oder umgekehrt wählt, aber sein Carnet nicht registrieren lässt.

Das »Carnet de la Patria« wird auch von linken Verbündeten der Regierung wie der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) abgelehnt und als überflüssig kritisiert. Sie fordern, dass die für das Carnet aufgewendeten Mittel lieber für bessere Personalausweise aufgewendet werden sollten, deren materielle Qualität zu wünschen übrig lasse. Die Kommunisten warnen zudem, dass durch die Register des »Carnet de la Patria« komplette Listen von Chavistas entstehen könnten, die im Falle eines Staatsstreichs direkt der Konterrevolution in die Hände fallen würden. Die PCV hat ihre Mitglieder aufgerufen, sich kein Carnet ausstellen zu lassen.

Quellen: MUD auf Facebook, Últimas Noticias, Globovisión, NTN 24, Tribuna Popular / RedGlobe