Überwältigende 0,8 Prozent gegen Zeitumstellung

Rezent wurde das Resultat einer EU-weiten Online-Umfrage zur Zeitumstellung bekanntgegeben und seither wird allenthalben berichtet, daß »80 Prozent gegen die Zeitumstellung« auf Sommerzeit seien. Das hört sich an, als handelte es sich um 80 Prozent der EU-Bürger, doch weit gefehlt.

Zwar zeigte sich die zuständige EU-Kommission von der Teilnehmerzahl 4,6 Millionen erfreut, doch wenn man an der Oberfläche kratzt, wird klar, daß die Nein-Sager keineswegs in der Mehrheit sind. Lange Zeit war die Online-Umfrage aus technischen Gründen in Luxemburg oder Deutschland überhaupt nicht erreichbar und insgesamt betrachtet stammt der größte Teil der Nein-Stimmen aus unserem östlichen Nachbarland, während etwa in Portugal die Umfrage weitestgehend unbekannt blieb. Auch aus anderen Ländern kamen nach Bekanntgabe des Resultats überraschte Reaktionen.

Richtig muß es heißen, daß 80 Prozent der 4,6 Millionen Teilnehmer für die Abschaffung der Zeitumstellung von Normalzeit (MEZ, im Volksmund »Winterzeit«) auf die MESZ (»Sommerzeit«) votiert haben, was weniger als 1 Prozent aller EU-Bürger ausmacht und somit keinesfalls als repräsentativ gesehen werden darf. So »klar«, wie das Resultat von einigen Medien also interpretiert wird, ist es mitnichten. Dennoch wollte sich die Kommission gestern und heute zum Ergebnis beraten und weitere Schritte erörtern. Das Thema könnte auch in den EU-Wahlkampf 2019 einfließen.

Der Zweck der Zeitumstellung im Frühjahr und Herbst, die seit 1996 für alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtend ist, sollte in erster Linie Energieersparnis und Zeitverschiebungsprobleme für die Wirtschaft ins Auge fassen. Generationen von Menschen allerdings wuchsen seit Einführung damit auf, daß es auch einen sozialen Nutzen bringt, wenn es abends eine Stunde länger hell ist: Viele Menschen genießen es, im Sommer mehr Zeit des Tages im Anschluß an die Lohnarbeit noch zur freien Verfügung nutzen zu können. Ob sportliche Aktivitäten oder laue Sommerabende auf der Terrasse: Die meisten Menschen haben sich mit der Zeitumstellung eingerichtet, anders als ihr ursprünglicher Sinn es vermuten ließ.

Nun brauchte man in Brüssel ein Thema, zu welchem den Bürgern der Eindruck vermittelt werden kann, die EU höre auf das Volk und ließe es mitbestimmen. Ein unverfängliches Thema war mit der Zeitumstellung so kurz vor den kommenden EU-Wahlen schnell gefunden und die Diskussionen in den sozialen Netzwerken kochten über, während wirklich wichtigere Themen, wie Sozialstaat oder Renten im Schatten standen. Plötzlich litten viele Menschen an furchtbaren Jetlags aufgrund der Zeitumstellung zweimal im Jahr und forderten vehement die Abschaffung dieses Biorhythmus-Killers und die Rückkehr zur Normalzeit von Mutter Natur.

Dumm nur, daß Mutter Natur keine eigene Zeit hat, denn Uhren haben nur die Menschen. Offensichtlich leiden manche Menschen unter der Zeitumstellung extrem, während anderen der regelmäßige Flug nach Ostasien oder in die USA nichts auszumachen scheint. Andere Faktoren, wie etwa Unfallrisiko, körperliche Vorteile von mehr Sonnenlicht oder eben die angesprochenen sozialen Aspekte wurden überhaupt nicht in Betracht gezogen.

Kann es sein, daß hier mit dieser Umfrage die Volksseele gestreichelt werden soll und ganz andere Interessen dahinterstecken?

Christoph Kühnemund

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek