Redebeitrag des Sekretärs des ZK der KP der Donezker Volksrepublik, Stanislaw Retinskij, beim UZ-Pressefest in Dortmund

comunistaWir dokumentieren einen Redebeitrag von Stanislaw Retinskij, Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Donezker Volksrepublik, beim UZ-Pressefest der DKP am vergangenen Wochenende in Dortmund:

Auf dem Gebiet der ehemaligen Ukraine, einschließlich des Donbass, führte der Niedergang der Industrie, der durch die zeitweilige Niederlage des Sozialismus hervorgerufen wurde, zu einer großflächigen Arbeitsmigration. Millionen ukrainischer Arbeiter machten sich auf die Suche nach besseren Arbeitsbedingungen in den Ländern des näheren oder ferneren Auslands und füllten so die Reihen der Gastarbeiter auf. Dass die Arbeitskraft dem Kapital folgt, ist eine charakteristische Erscheinung für den Kapitalismus. Aber dieser Bewegung widmen die heutigen Linken aus irgendeinem Grund nicht genügend Aufmerksamkeit.

Seinerzeit stellte die Arbeit von Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ einer der ersten Etappen der Herausbildung des Marxismus dar. Indem er das Industrieproletariat untersuchte, entdeckte er eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion. Heute jedoch führen Linke, anstelle die Gegenwart, d.h. der heutigen Lage des Proletariats, zu untersuchen, endlose Streitigkeiten über die Vergangenheit: hatte Stalin recht oder doch Trozkij, gab es in der UdSSR Sozialismus oder nicht, liegt die Schuld für die Vernichtung der Sowjetunion bei Gorbatschow oder bei Jelzin usw. Möglicherweise sind Diskussionen über die Vergangenheit nützlich, aber nicht dann, wenn sie die Untersuchung des derzeitigen Geschehens ersetzen. Denn in den letzten Jahrzehnten hat die Geschichte genügend Material für Untersuchungen nicht nur im postsowjetischen Raum, sondern in der ganzen Welt geliefert.

Nach Informationen des ukrainischen Außenministeriums arbeiten derzeit 5 Mio. Menschen im Ausland. Dabei beträgt die Bevölkerungzahl des Landes ohne die Krim, die DVR und die LVR etwa 38 Mio. Menschen. Im Jahr 2017 haben die Gastarbeiter 9,3 Mrd. Dollar in die Heimat überwiesen, was mehr als fünf mal so viel ist wie die direkten ausländischen Investitionen in demselben Zeitraum. Insgesamt haben die Arbeitsmigranten in den Jahren 2015-2017 23,8 Mrd. Dollar in die Ukraine überwiesen, d.h. mehr als die Währungsreserven des Landes, die Anfang 2018 18,8 Mrd. Dollar betrugen. Obwohl die ukrainische Politik auf antirussischer Rhetorik aufgebaut ist, gehört Russland zu den Ländern, aus denen die meisten Überweisungen in die Ukraine erfolgen.

So ist die gefragteste Ware der Ukraine die Arbeitskraft. Dabei sieht die Sache mit der Produktion und dem Verkauf anderer Waren wesentlich schlechter aus. Dank den ökonomischen Verbindungen mit jenem Russland, die sich seit den sowjetischen Zeiten erhalten haben, gelingt es bisher einige hochtechnologische Unternehmen über Wasser zu halten. Mehr als ein Drittel des ukrainischen Exports auf den russischen Markt besteht aus Produkten des Maschinenbaus. In der EU sind ukrainische Transformatoren, Motoren und Werkbänke nicht gefragt. Im Gegenteil, die EU ist selbst an der Lieferung der eigenen Ausrüstungen auf den ukrainischen Markt interessiert, die im übrigen aus ukrainischen Rohstoff hergestellt werden.

Trotz aller Gespräche über die EU-Integration bleibt gerade das „Aggressorland“ der hauptsächliche ökonomische Partner. Im Jahr 2017 betrug der Warenaustausch Russlands mit der Ukraine fast 13. Mrd. Dollar, er war um 25,65% höher als 2016. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI teilt mit, dass der ukrainische Export von Rüstungsgütern in die RF in den Jahren 2014-2016 von 237 Mio. Dollar auf 417 Mio. Dollar stieg. 2017 hat das Dnjepropetrowsker „Jushmasch“ mit dem russischen Unternehmen S7 SeaLaunch einen Vertrag zur Herstellung und Lieferung von 12 Raketenträgern „Zenith“ zur Verwendung in den Programmen „Seestart“ und „Bodenstart“ abgeschlossen, was dem Unternehmen helfen sollte, die tiefe Krise zu überwinden.

Andere große Unternehmen befinden sich in weitaus schlechteren Bedingungen. Industriegiganten wie „Sorja-Maschprojekt“, Sumskoje NPO, „Antonow“, Charkower Flugzeugwerk haben die Produktion merklich reduziert. Schon seit einem langen Zeitraum stehen die Unternehmen „Asot“, das Dnjepropetrowsker Metallkombinat, das Odessaer Hafenwerk still. Im Fall einer endgültigen Vernichtung des Industriepotentials, das in sowjetischer Zeit geschaffen wurde, riskiert die Ukraine wieder zu einem Agrarland zu werden, wie in der vorrevolutionären Zeit. Wenn der Kurs auf Europa es erlauben wird, den ukrainischen Export zu vergrößern, dann den Export ukrainischer Gastarbeiter.

Im Zusammenhang damit, dass der Donbass sich über lange Zeit hinweg im Rahmen der Ukrainer befand, sind die Besonderheiten der Arbeiterbewegung in der Ukraine und im Donbass in vielem ähnlich. Nach der Restauration des Kapitalismus hat auch hier zielstrebig der Prozess der Deindustrialisierung der Region begonnen. So waren allein in Donezk 1991 29 Kohlebergwerke in Betrieb. Etwa die Hälfte von ihnen stellten die Kohleförderung bereits vor 2014 ein. Mit Beginn der Kämpfe wurden viele Unternehmen durch die ukrainische Artillerie zerstört. Derzeit sind in Donezk nur vier Kohlebergwerke in Betrieb. In der ganzen Republik sind es nur 18 Kohlebergwerke.

Es gibt die Auffassung, dass wenn die DVR im Staatsverband der Ukraine geblieben wäre, sie die Unternehmen, die während der Kämpfe zerstört wurden, hätte erhalten können. Aber die übrigen Bergwerke auf dem von Kiew kontrollierten Territorium, wo es keine Blockade und keine Beschüsse gibt, erwartet die Liquidierung. Bis 2019 plant man in der Ukraine 32 Bergwerke zu schließen und weitere 24 kohlefördernde Unternehmen stillzulegen. Die Ursache dafür ist, die Übernahme des ukrainischen Energiemarkts durch US-amerikanisches Kapital. Im September 2017 ist im Seehafen von Odessa die erste Partie von Energiekohle aus den USA eingetroffen. Gleichzeitig damit wurden in der DVR 2017 11 Stollen in Betrieb genommen. Dabei wird die Kohle nicht auf den russischen Markt geliefert, sondern über Seehäfen im Oblast Rostow auf den Weltmarkt. Die Sache ist die, dass die Stärkung der Verbindungen mit der RF es erlaubt, nur einige ökonomische Probleme des Donbass zu lösen, aber bei weitem nicht alle. Probleme, insbesondere Absatzprobleme, gibt es auch in der Kohlebranche Russlands nicht weniger als in den Republiken. Noch vor kurzem haben Rostower Bergleute aufgrund von Lohnrückständen protestiert.

In den „Grundsätzen des Kommunismus“ hat Friedrich Engels die Besonderheit des Proletariats gegenüber anderen ausgebeuteten Klassen, einschließlich des Manufakturarbeiters, dargestellt. Im 16. bis 18. Jahrhundert hatte der Manufakturarbeiter seine Produktionsmittel und ein kleines Stück Land, das er in seiner arbeitsfreien Zeit bearbeitete. Aber die große Industrie entzog im jedes Eigentum, verwandelte ihn in einen Proletarier. So liegt der Hauptunterschied des Manufakturarbeiters gegenüber dem Industrieproletarier darin, dass der letztere nichts besitzt. In der Ukraine und im Donbass nimmt der Arbeiter eine mittlere Lage ein. Er lebt nicht im Dorf wie der Manufakturarbeiter, aber er verfügt über ein Stück Land, was der Proletarier nicht hat. Die Ernte, die auf diesem Stück Land erzielt wird, erlaubt es natürlich nicht, den Arbeiter und seine Familie vollständig mit Lebensmitteln zu versorgen, aber teilweise sehr wohl. Wenn vor 250 Jahren die Landparzelle ein Überrest patriarchalischer Verhältnisse war, so war sie vor 25 Jahren ein Überrest sozialistischer Verhältnisse.

Nicht selten sind die Fälle, wo ein Arbeiter nicht nur ein Stück Land hat, sondern auch Produktionsmittel besitzt. Nach der Niederlage des Sozialismus befassten sich nicht nur Eigentümer und Leiter mit banalem Diebstahl von in den Unternehmen vorhandener Ausrüstung, sondern auch die Arbeiter selbst, deren Bewusstsein auch bis heute genauso bürgerlich ist wie das ihrer neuen Herren. In der hauptsächlichen Zeit arbeiteten sie in Fabriken und Bergwerken und in ihrer Freizeit befassten sie sich mit Hinzuverdienst außerhalb des Unternehmens, aber mit „ihrer“ Ausrüstung: einer kleinen Werkbank, Schweißgerät u.s.w. Derzeit bestehen Vertragsunternehmer oft aus Arbeitern, die eigene Produktionsmittel haben. Sie erledigen eine bestimmte Art von Arbeiten auch in großen Unternehmen, obwohl sie zuvor, unter der Sowjetmacht, in diesen Unternehmen gearbeitet haben und nicht außerhalb.

Außerdem muss angemerkt werden, dass der Unterschied zwischen den Arbeitsmigranten der Ukraine und den Arbeitsmigranten der alten kapitalistischen Länder unter anderem darin besteht, dass sie eigene Wohnungen besitzen. Das ist der Faktor, der die ukrainischen Gastarbeiter noch mit der Heimat verbindet. In den EU-Staaten haben die Arbeiter normalerweise keinen eigenen Wohnraum, deswegen wechseln sie mit der Arbeit auch den Wohnort. Aber ein Umstand hat zu Änderungen geführt – der Krieg. Mit seinem Beginn haben die Menschen all ihren Besitz zurück gelassen und sind weit von den Kämpfen im Donbass wegezogen. Und bei weitem nicht alle von ihnen kommen zurück. So lebten in Donezk vor dem Krieg eine Million Menschen, im Sommer 2014 300.00 bis 400.000 und jetzt nach einigen Angaben etwa 600.000 bis 700.000. Normalerweise sind ganze Familien fortgegangen, die nichts mehr mit der Heimat verbindet: weder der zerstörte Wohnraum noch das vernichtete Unternehmen.

Unter solchen Bedingungen hat die Arbeit der Kommunisten, besonders der europäischen und russischen, unter den Gastarbeitern besondere Bedeutung bei der Entstehung einer revolutionären Arbeiterbewegung. Aber im ganzen postsowjetischen Raum wird dieser Frage unzureichend Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn deshalb einige Kommunisten immer wieder wiederholen, dass das Proletariat bei uns nicht revolutionär ist, so verweisen sie damit nur auf ihre fehlende Arbeit. Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben, sagte Lenin. Das Klassenbewusstsein, das der Marxismus ist, kann in nur von außen in das Proletariat gebracht werden. Darin besteht die Hauptaufgabe der kommunistischen Partei.

Aus unserer Sicht lässt sich die heutige Krise der Arbeiterbewegung in vielem dadurch erklären, dass in der Epoche des Imperialismus das Proletariat wie auch das Bürgertum konservativ wird. Aufgrund der Einbindung in das System der Waren-Geld-Beziehungen, wo, wenn man es so ausdrücken kann, „die sesshafte Lebensweise“ nicht die letzte Rolle spielt, verliert die Arbeiterklasse ihr revolutionäres Potential. Das heutige Proletariat, dass sich noch der „Überreste des Sozialismus“ bedient (Wohnungen, Landstücke u.s.w.) verdient in den Industrieunternehmen ausreichend, um sich erträgliche Lebensbedingungen zu sichern. Die Gastarbeiter, denen selbst die minimalen Rechte entzogen werden und die entsetzlicher Ausbeutung ausgesetzt sind, sind die Träger eines revolutionären Potentials genauso wie die Halbproletarier.

Die Merkmale des Revolutionären sind charakteristische für ein Proletariat, das sich im Entstehen befindet. Der „linke Umschwung“ in Lateinamerika ist auch in vielem durch das Entstehen einer örtlichen Arbeiterklasse, deren Heraustreten aus dem bäuerlichen Milieu zu erklären. Im Ergebnis der Zuspitzung der Klassenwidersprüche führt dies hier bisweilen dazu, dass selbst politische Führer auf die Seite des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ übergehen, die mit ihm nicht gemein haben. Ein Beispiel hierfür ist nicht nur der Ex-Präsident von Honduras Manuel Zelaya, der sich zu Beginn als Liberaler positionierte, sondern auch andere lateinamerikanische Führer. Zum Beispiel ähnelte seinerzeit die Wahlkampfrhetorik des ehemaligen Präsidenten von Ecuador Rafael Correa mehr dem Bestreben einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ aufzubauen. Aber alles änderte sich mit den ersten praktischen Schritten in der Rolle als Führer des Landes, weil die Wirklichkeit selbst dazu zwang, nach der Logik einer sozialistischen Umwälzung zu handeln.

Trotz der zügigen Entwicklung der Ereignisse in Lateinamerika müssen die örtlichen Kommunisten noch ein ernsthaftes Problem lösen: das Zurückbleiben der Theorie hinter der Praxis. Auf dem Kontinent ist ein ernsthaftes Defizit an Theoretikern zu beobachten, die in der Lage sind, die dort stattfindenden sozialen Prozesse zu durchdringen. Wenn dieses Problem in der nächsten Zeit nicht gelöst wird, so kann der „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ mit noch größeren Problemen zu tun haben als mit Sabotageaktivitäten von Seiten der USA, die sich in letzter Zeit erheblich verstärkt haben. Man kann mit Überzeugung sagen, dass die Missachtung der Theorie und der historischen Praxis eine Gefahr für die Bolivarianische Revolution wie auch für die weltweite kommunistische Bewegung darstellt, die nicht geringer ist als US-Kriegsbasen. Aber bis heute gibt es eine Konfusion in einer Reihe theoretischer Fragen, insbesondere in der Rolle der Partei unter den Arbeitern.

Quelle: Kommunistische Partei der Donezker Volksrepublik / RedGlobe