Präsident ohne Volk

Während sich Frankreich in der vergangenen Woche an die Spitze der EU-Länder stellte, die dem selbsternannten venezolanischen »Interimspräsidenten« Guaidó ihre Anerkennung aussprachen und von Demokratie und Menschenrechten gefaselt wurde, stimmte das französische Parlament quasi zur selben Zeit über eine Verschärfung und damit einhergehende Einschränkung der Versammlungsfreiheit im Hexagon ab.

Ein solches Gesetz, wie es nun von Macron quasi 1:1 aus einer konservativen Vorlage ins Parlament eingebracht und in großer Mehrheit angenommen wurde, hat es bereits in den 70er und 80er Jahren in dem Land gegeben. Dies zeigt nicht nur das Demokratieverständnis, mit welchem der in der Bevölkerung zunehmend umstrittene neoliberale Präsident auf die anhaltenden Demonstrationen reagiert, sondern auch, daß er mit gespaltener Zunge spricht, wenn er erklärt, eine große Debatte führen zu wollen, aber gleichzeitig hinter verschlossenen Türen den Schlägertrupps in Uniform noch weiter reichende Freiheiten ermöglicht im Vorgehen gegen die protestierenden Bürger, deren Zorn über die soziale Verelendung des Landes sie auf die Straße getrieben hat. Da mittlerweile bereits Teile der Mittelschicht ins Prekariat stürzen, dürfte ein Abebben der Proteste und des Unmuts nicht zu erwarten sein, außer eben, man würgt sie mit politischen Maßnahmen ab.

In einer Arte-Dokumentation in der vergangenen Woche, wurden Wortführer der Gelbwesten-Bewegung dabei begleitet, wie sie versuchten, bei der Regierung Gehör zu finden und wie sie nach einem langen Tag des Wartens mit einigen Worten abgespeist wurden und die stundenlange Heimreise antreten konnten. Die Frage, die sich hier stellt, ist doch: Inwieweit nützen Gesprächsversuche mit Regierungspolitikern noch, die es ganz offen zur Schau tragen, die Proteste der Bevölkerung nicht ernst zu nehmen. Dieselben Politiker, die angeblich in Venezuela die Demokratie unterstützen wollen.
Zugegebenermaßen hatten die Gelbwesten in ihrer Anfangsphase ein anrüchiges Image: Immer wieder fielen rechtsradikale Gruppen in ihrem Kreise auf, die versuchten, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. Die Zurückhaltung von linken Parteien und Gewerkschaften war also durchaus nachvollziehbar. Dennoch wäre es ein Fehler, diese Bewegung weiterhin mit krauser Stirn aus der Ferne zu betrachten, denn schon jetzt dürfte klar sein, daß es sich hier um eine der größten sozialen Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte in Europa handelt.

Zu diesem Schluß sind in der abgelaufenen Woche nun auch die französischen Gewerkschaften CGT und CFDT gekommen, die sich nun endgültig an die Seite der bisher weitgehend unorganisierten Autowesten gestellt haben. Dies dürfte eine win-win-Situation sein: Die Gelbwesten erfahren eine Stärkung ihrer Bewegung, insbesondere am Vorabend einer neuen Repressionswelle gegen Demonstrationen, während die Gewerkschaften die Möglichkeit haben, politische Akzente zu setzen und gleichzeitig für das Ansehen ihrer Organisationen zu werben, die in Frankreich noch immer nicht flächendeckend von jedem Lohnabhängigen und sozial benachteiligten Bürger so richtig verstanden und akzeptiert werden.

Wenn Herr Macron den Präsidenten anderer Länder vorwirft, sich nicht für die Bedürfnisse des Volkes zu interessieren, sollte er vielleicht anfangen, vor der eigenen Tür zu kehren, bevor er sich, gemeinsam mit anderen führenden EU-Politikern, in die internen Angelegenheiten fremder Länder einmischt.

Christoph Kühnemund

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek