Mobilmachen gegen Russland

Eines muß man den Planern im NATO-Hauptquartier lassen: Sie haben Sinn für Symbolik und historische Daten. Selbstverständlich wissen sie, daß der 9. Mai ganz besonders für die große Mehrheit der Menschen in Rußland und für viele Menschen in den Ländern der früheren Sowjetunion von großer symbolischer Bedeutung ist. Seit in der Nacht des 8. Mai – nach Moskauer Zeit kurz nach Mitternacht am 9. Mai 1945 – in der zerstörten Hauptstadt des faschistischen Deutschland die Kapitulationsurkunde der deutschen Wehrmacht und des Tausendjährigen Reiches unterzeichnet wurde, wird dieser Tag als »Tag des Sieges« begangen. Trotz aller Verwerfungen im heutigen kapitalistischen Rußland sind die meisten Menschen auch heute noch stolz auf den Sieg der Roten Armee über den Aggressor, praktisch in jeder Familie wird auch heute noch getrauert um Familienmitglieder, die als Soldaten an der Front oder als Partisanen im Hinterland des Feindes gefallen sind, um Verwandte, die den Massakern der faschistischen Besatzer zum Opfer fielen, die bei den Gefechten um Städte und Dörfer getötet wurden, die bei der fast 900 Tage andauernden Belagerung der Heldenstadt Leningrad verhungerten oder erfroren.

In fast allen Ländern Europas, nicht nur in den sozialistischen Staaten, wurde und wird am 8. Mai jährlich der Befreiung von der faschistischen Besatzung und des Sieges über Hitlerdeutschland gedacht. Allerdings setzten die Kalten Krieger im Westen schon vor über 70 Jahren alles daran, den Anteil der Völker der Sowjetunion und der Roten Armee an der Zerschlagung des Faschismus in Europa – und auch am Sieg über Japan in Asien – zu schmälern und herabzuwürdigen. Historische Fakten werden verfälscht oder ganz verschwiegen. Die Liste ist lang, sie reicht vom Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion über den »Blitzkrieg« an der Ostfront, die großen Schlachten um Moskau, Leningrad, Kiew, Stalingrad, Warschau, die Bedeutung der Landung der Alliierten in der Normandie, die Ardennenschlacht bis zur Lüge über die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die angeblich von entscheidender Bedeutung für die Kapitulation Japans waren.

Je mehr Jahre vergehen, je mehr Zeitzeugen nicht mehr über das tatsächliche Geschehen berichten können, umso mehr Wirkung entfalten all die Halbwahrheiten und ganzen Lügen, die seit damals verbreitet werden. Heute ist es den neuen Kalten Kriegern ohne Probleme möglich, Rußland als »Aggressor« darzustellen, der die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine, Georgien, die ganze NATO und in Venezuela sogar die USA bedroht. Die meisten jungen Leute wissen heute nichts über die Bedeutung des 9. Mai, die Verse »Meinst du, die Russen wollen Krieg?« sind ihnen unbekannt, erst recht deren Aussage. Wer denkt sich heute noch etwas dabei, wenn ausgerechnet am 9. Mai – an dem Tag, den die Europäische Union zum »Europa-Tag« ernannt hat – eine NATO-Übung beginnt, mit der die Reaktion auf einen Aggressor geübt wird? Einen Aggressor, den man öffentlich nicht namentlich nennt, der aber nach Lage der Dinge nur Rußland heißen kann.

Ja, sie haben Sinn für Symbolik und historische Daten, die NATO-Planer. Aber sie haben nichts gelernt aus der Geschichte. Und nein, wir Kommunisten stehen nicht auf der Seite des Präsidenten und der Regierung des kapitalistischen Rußland. Aber wir stehen auf der Seite derjenigen, die 1945 die Rote Fahne auf dem von den Faschisten zerstörten Reichstag hißten, und wir stehen mitten unter jenen, die das Andenken an die Sieger – aller Sieger – über den Faschismus auch heute wahren und ehren.

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek