Historischer Hintergrund zum „praktischen“ Verhalten Chinas

Der Autor dieses Beitrags, Dr. phil. Gerhard Oberkofler, geb. 1941, ist Professor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Über die chinesische Kultur wusste erst das Europa der Aufklärung das eine und andere von ein paar Jesuiten, die im 17. und 18. Jahrhundert dorthin zur katholischen Missionierung gezogen sind. Immerhin hat Johann Wolfgang Goethe bemerkt, China habe schon eine Literatur gehabt, „als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten“. Heinrich Heine hat die Denunziationen eines deutschen Publizisten gegen das „Junge Deutschland“, deren Schriften 1835 vom Deutschen Bundestag verboten worden sind, als „delatorische Artikel gegen <das junge China<“ paraphrasiert, welches, wie aus den jüngsten Dekreten der chinesischen Regierung hervorgeht, eine Rotte von Bösewichtern zu sein scheint“.

Der Bürgerkrieg in China hatte als Ergebnis die Proklamation der Gründung der Chinesischen Volksrepublik (1. Oktober 1949). Auf der Tagung des Zentralkomitees der KPCh in Peking vom 1. bis 12. August 1966 wurde mit Mao Tse-tung die „Große Proletarische Kulturrevolution“ beschlossen, die bis zum Tode von Mao 1976 andauern sollte. Diese chinesische Kulturrevolution, die gewisse nicht den Anspruch hatte, Trägerin des „Weltgeistes“ zu sein, ist nur im Kontext des nach der Barbarei von Kolonialismus und Krieg gewaltigen industriellen und ökonomischen Aufbaus nachvollzuziehen.

Der aus einer jüdischen Prager, nach Wien übersiedelten Familie stammende Arzt Fritz Jensen (Friedrich Albert Jerusalem) ist nach dem spanischen Befreiungskampf mit einigen anderen Ärzten nach China gegangen. Er erinnerte sich bei Niederschrift seiner Erinnerungen besonders an eine Ansprache von Mao aus dem Jahr 1949: „Das chinesische Volk wird sehen, dass China, sobald das Volk die Geschicke Chinas in seine eigene Hände genommen hat, der im Osten aufgehenden Sonne gleichen wird, die mit leuchtenden Strahlen jeden Winkel des Landes erleuchtet, geschwind den von der reaktionären Regierung hinterlassenen Schutt hinwegsengen, die Kriegswunden heilen und eine neue, mächtige und blühende Volksrepublik im wahrsten Sinne des Wortes aufbauen wird.“ Jensen war ein Lernender, er hat die Vorurteile des „gebildeten Europäers“ abgelegt und in eine mögliche Zukunft gesehen: „Millionen von Arbeitern, Bauern und Soldaten, die trotz ihrer noch nicht überwundenen materiellen Armut auf einer so hohen Stufe des politischen Bewusstseins geeint waren, dass sich daneben die hygienische, selbstherrliche und trotzdem panisch ratlose Lebensweise des europäischen Bürgertums und seiner arbeiteraristokratischen Mitläufer wie grauestes Mittelalter ausnimmt“. Mao hat solcher an der chinesischen Revolution beteiligten Ausländer wie des Altösterreichers Jensen gedacht: „Welche Gesinnung spricht daraus, wenn ein Ausländer, ohne auch nur den geringsten Vorteil zu suchen, die Sache der Befreiung des chinesischen Volkes zu seiner eigenen Sache macht? Das ist die Gesinnung des Internationalismus, die Gesinnung des Kommunismus. Jeder chinesische Kommunist muss aus dieser Gesinnung lernen“.

Die Chinesische Kommunistische Partei schloss Irrwege nicht von vorneherein aus, vielmehr ging sie davon aus, dass sich solche aus dem Mangel an praktischer Erfahrung einstellen und durch diese dann korrigiert werden können. 1943 hat Mao einen Schlüsseltext formuliert: „Die Meinungen der Massen (vereinzelte und nicht systematisierte Meinungen) sind zu sammeln und zu konzentrieren … und dann wieder in die Massen hineinzutragen, zu propagieren und zu erläutern, bis die Massen sie sich zu eigen gemacht haben, sich für sie einsetzen und sie verwirklichen; dabei wird die Richtigkeit dieser Meinungen in den Aktionen der Massen überprüft … Und so geht es unendlich spiralförmig weiter, wobei diese Meinungen mit jedem Mal richtiger, lebendiger und reicher werden. Das ist die marxistische Erkenntnistheorie“. Auch die chinesische Sprache mag bei dieser Herangehensweise ein erkennbarer Faktor sein. Der Italiener, von den Faschisten inhaftierte Antonio Gramsci hat die Beobachtung gemacht, dass die „Erfahrung im Chinesischen einen größeren Wert als in anderen Sprachen (hat)“.

Nach den vielen abwertenden Bemerkungen zu China in den Medien Europas zeigt sich, dass in der Krise der Gegenwart in China praktisch wirksam, solidarisch und internationalistisch gehandelt werden kann. Der Philosoph Herbert Hörz in Berlin hat diesen zentralen Wert der „Kulturrevolution“ als Herausforderung für die Gegenwart aufgegriffen: „Es gibt keinen Automatismus der Geschichte, der die Vision einer humanen Zukunft eintreten lässt. Ohne aktives Handeln gegen Selbstlauf wird sich die Menschheit als Gattung vernichten, da sie ihre Lebensbedingungen zerstört. Es bedarf deshalb attraktiver, anschaulicher und einsichtiger Ideale als Leitbilder humaner Zukunftsgestaltung, um dagegen zu steuern“.

Quelle:

Zeitung der Arbeit