Die Europäische Union und die »Solidarität«

Die politischen Lenker der Europäischen Union haben sich nie von einer Zielstellung verabschiedet, die vor Jahren formuliert wurde, als die Welt des westeuropäischen Kapitals noch »heil« schien: Die EU soll zur führenden Wirtschaftskraft der Welt werden.

Zwischendurch war es ein wenig still geworden um diese Weltherrschafts-Phantasie, immerhin hatte die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ganze Arbeit geleistet, und außerdem gab es so manche andere störende Faktoren inner- und außerhalb der Machtstrukturen der EU. Aber angesichts der weltweiten Erschütterungen im Zuge der Corona-Krise scheint bei einigen EU-Politikern die Erinnerung an die »führende Kraft« wieder ins getrübte Bewußtsein zurückgekehrt zu sein. Die USA, der große kapitalistische Konkurrent, haben sich mit Trump und Corona in Schwierigkeiten verwickelt, die der nordamerikanischen Volkswirtschaft ernsthafte Schäden zufügen könnten. Der Wirtschaftskrieg der USA gegen China geht auch an der asiatischen Großmacht nicht spurlos vorbei. Japan kämpft mit einem schier ungeahnten Exporteinbrauch.

Zeit also, wieder mal an der Finanz- und Wirtschaftsmacht der EU zu arbeiten, scheinen einige ihrer Politiker zu denken. Die haben ja immerhin den Auftrag, für die günstigsten Bedingungen zur Erzielung maximaler Profite zu sorgen – natürlich ausschließlich für die Besitzer der Banken und Großkonzerne in ihrer Region, nicht für die anderen. Und damit genau diese Großkapitalisten weiterhin Millionen und Milliarden scheffeln können, haben sie sich einige »Hilfspakete« für die Rettung der Wirtschaft in ihrem Herrschaftsbereich ausgedacht.

All die Programme und »Pakete« haben natürlich wohlklingende Namen, und immer wird in diesem Zusammenhang das Wort »Solidarität« bis zur Unkenntlichkeit mißbraucht. Denn wenn diese Leute von »Solidarität« reden, dann meinen sie, daß alles getan werden muß, daß die »systemrelevanten« Unternehmen nicht nur keinen Schaden erleiden, sondern auch in der Krise Gewinne einfahren. Dafür muß man halt auch Opfer bringen…

Opfer werden aber nicht von denen verlangt, die es sich leisten können, sondern von jenen, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit verdienen müssen – auch von jenen, die im Zuge der Krise ihre Arbeit verloren haben oder zu »Kurzarbeit« genötigt wurden, von den Rentnern und von den Jugendlichen, die noch nicht einmal im Arbeitsleben angekommen sind. Und das sind auch diejenigen, auf die sich die die »Solidarität« der EU-Lenker nicht erstreckt.

Das ist einer der Hintergründe für die unsägliche Schacherei auf dem am Freitag begonnenen EU-Sondergipfel, auf dem über die unglaubliche Summe von insgesamt 1,9 Billionen (!) Euro gefeilscht wird. Alle Regierenden wollen ein möglichst großes Stück von diesem Kuchen, aber nicht alle haben das gleiche Gewicht beim Feilschen. Die »Habenichtse« sollen sich gefälligst mit dem zufrieden geben, was man ihnen zuteilt, und sie sollen dafür Gegenleistungen erbringen, »Reformen« genannt. Darunter verstehen die »Reichen« vor allem die Herstellung solcher Verhältnisse, die eine noch größere Ausbeutung der Lohnabhängigen zugunsten der Besitzenden ermöglichen – also vor allem Privatisierungen und »Flexibilisierung« bis zum Geht nicht mehr.

Und sie behalten sich vor, zu definieren, was ein »Rechtsstaat« ist – und der hat erst einmal nichts mit der Durchsetzung grundlegender Menschenrechte wie etwa des Rechts auf Arbeit zu tun, sondern nur mit einem Staat, in dem die größten Konzerne der »reichen« Länder ungestört das Sagen haben. »Solidarität« um jeden Preis…

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek