6. Oktober 2024

Bilder von unmöglichen Brücken: III Ein Brief

Übernommen von Enlace Zapatista:

August 2024

Eigentlich ist der Brief sehr kurz. Er ist aus dem Cauca gekommen, was in der Geografie namens Kolumbien liegt, und enthält eine Bitte der Geschwister vom Pueblo Originario der Nasa. Ich glaube, das war Ende 2022. Moment… ja, er kam am 31. Oktober 2022 an. Die Nasa-Geschwister baten uns, einen Artikel auf der Seite von Enlace Zapatista zu verbreiten, also ihn dort zu veröffentlichen.

Ich las den Text aufmerksam, glich die Daten ab und dachte: „Wenn das auf der Website erscheint, wird es niemand beachten. Und ich glaube, ihr Anliegen ist nicht, viele „Aufrufe“ zu haben, sondern dass das, was da steht, hier in den Bergen des mexikanischen Südostens gelesen und verstanden wird. Also machen wir etwas Besseres, als es auf der Enlace-Zapatista-Seite zu veröffentlichen: Ich werde es direkt an die politisch-organisatorische zapatistische Leitung weitergeben. Sollen sie es als das bewerten, was es ist: „eine unmögliche Brücke“. Warum „unmöglich“? Das werden sie gleich sehen:

In jenen Tagen diskutierten und analysierten die Compañeras und Compañeros Jefes [1] bereits das, was ein Jahr später als „Das Gemeinschaftliche“ bekannt werden würde.

Die Versammlungen fanden häufig statt und waren intensiv und anstrengend. Ich weiß das, weil ich immer mal hineinschaute, und von dem, was mir Subcomandante Insurgente Moisés erzählt hat.

Schon damals zeichnete sich „Das Gemeinschaftliche“ am Horizont ab, aber in jenem Moment ging es um die Fragen „Was sind wir?“, „Wo sind wir?“, „Wohin gehen wir?“.

Die Eindrücke der sogenannten „Reise für das Leben. Kapitel Europa“ auf den Zapatismus zeigten ihre Wirkung. Über Wochen hatten die verschiedenen Delegationen, die die unterschiedlichen Geografien im Europa von unten und links besucht hatten, in den Versammlungen des Komitees und der Gemeinden auf der Grundlage ihrer Mitschriften darüber berichtet.

Mit den und durch die Delegationen hatte der Zapatismus die Zerstörung gesehen, die „Moderne“ und „Fortschritt“ in den „entwickelten“ Territorien, der schlecht benannten „westlichen Zivilisation“, erzeugen – die sich paradoxerweise östlich von uns befindet. Und sie hatten die Ähnlichkeit mit jenen gefunden, die in jeder Hinsicht anders waren: Widerstand und Rebellion angesichts der Hydra, dem kapitalistischen System. Das Ganze und die Teile.

Mit den Worten von Subcomandante Insurgente Moisés, Koordinator dieses Kapitels der Reise für das Leben: „Es sieht schlecht aus, wir müssen uns beeilen.“

Die Bilanz war besorgniserregend:

der beschleunigte Prozess der Zerstörung des sozialen Gefüges in Mexiko;

das offensichtliche Scheitern der Wahllinken („Progressivismus“), und dabei sprechen wir nicht einmal mehr von der Transformation der Grundlagen eines kriminellen Systems, sondern selbst bei dessen Verwaltung, und sei es wenigstens mittelmäßig („Korruption“ als Ursprung und Ursache allen Übels hinzustellen, anstatt sie als das zu sehen, was sie ist: eine Auswirkung … und auch bei ihrer Bekämpfung zu scheitern), die „Machtübernahme“ – in Wirklichkeit der Eintritt in die Regierung mit welchen Mitteln auch immer – war nichts anderes als eine Ablösung auf dem Posten des Vorarbeiters (anmaßend, arrogant und autoritär gegenüber den Arbeiter:innen und fügsam und demütig vor dem Fincabesitzer);

die immer stärkeren und schrecklicheren Proteste der Natur angesichts der Eroberungskriege des Kapitals;

der koordinierte Vorstoß des sogenannten Organisierten Verbrechens und der Megaprojekte;

die Migration und die vertriebene Bevölkerung (die entwickelten Länder, die mit den Auswirkungen der Kriege und der Eroberungspolitik in den sogenannten „peripheren“ Territorien konfrontiert sind);

die grausame und sadistische Gewalt gegen Frauen und Otroas [2] (die Aggression gegenüber allem, was anders ist, als neue fanatische Religion);

die zum Sühneopfer verkehrte Kindheit (das System, das die Zukunft der Menschheit auf dem Altar des Profits opfert);

das Wiederaufleben von Kriegen mit national-faschistischen Begründungen;

die Normalisierung der Katastrophe; der Zusammenbruch eben;

all das führte zu einer erschreckenden Schlussfolgerung: Das, was wir vorhergesehen und vor dem wir Jahrzehnte zuvor gewarnt hatten (und was damals verspottet und verhöhnt worden war), erfüllte sich.

Die Zukunft von damals ist bereits Gegenwart.

Aber all das wissen Sie schon. Ob Sie danach handeln, ist eine andere Frage.

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Aber zurück zu dem Brief aus dem Cauca, in dem wir um die Verbreitung des Textes gebeten wurden: Ich übergab das Schreiben an Subcomandante Insurgente Moisés und machte ihn insbesondere auf einen Teil aufmerksam.

Der Subcomandante las den Text und den unterstrichenen Teil, hob den Blick und fragte mich: „Hast du es ihnen schon gesagt?“ „Natürlich nicht”, antwortete ich. „Ich kenne diese Geschwister nicht.“ Daraufhin SubMoy: „Es ist, als ob sie in den Versammlungen dabei gewesen wären.“

Denn es ist so, dass das Komitee, die politisch-organisatorische zapatistische Leitung, in den Versammlungen der letzten Monate über die „-ismen“ diskutiert hatte.

Der unterstrichene Textteil lautet wie folgt:

Auf dem Weg haben wir gelernt, dass die Stimme, die lehrt, Uma Kiwe ist, unsere Mutter Erde; sie weist den Weg und die Strategien … auch wenn jene nicht gefehlt haben, die sich als Berater des Prozesses positionieren oder die Linie vorgeben wollten. Es gab 2016 einen Moment, in dem der Prozess beschloss, seine Türen für andere Kämpfe zu öffnen, um Gespräche und Sichtbarkeit zu ermöglichen. Von da an kamen all die Ismen zu uns und alle wollten ihre Linie vorgeben oder unseren Prozess mit ihren theoretischen Inhalten evangelisieren.

All diese Ismen, der Umweltschutz [3], der Anarchismus, der Marxismus, der Feminismus, der Maoismus, der Institutionalismus, die Modernisierungstheorie [4], sind durchweg westliche Gebilde und Vermächtnisse, und auch wenn sie sich in die Territorien mit indigenem Wissen einweben, tragen sie den Stempel der westlichen Rationalität. All die Ismen waren sehr wertvoll in der Unterstützung und Juntanza [5] mit diesem Prozess; einige Menschen sind respektvoll aufgetreten, andere kolonialistisch. Dann wurde es notwendig zu sagen: „Alle Ismen sind willkommen, aber hier sind wir Nasa-Indigenas und werden es bleiben.“ Die Befreiung von Mutter Erde geht über die Zuckerrohrpflanzungen hinaus. Dieser Kampf stützt sich auf das Wissen der Nasa, das von Uma Kiwe stammt, und wenn es bei uns Widersprüche gibt, dann gerade wegen dieser Schlacht, die im Herzen zwischen unserem Nasa-Wesen und dem vom Westen auferlegten Kapitalismus tobt.

Angesichts des falschen Dilemmas zwischen Institution und Revolution schlagen die Pueblos alternative Wege vor, um diese Gegenwart zu bewohnen; die Koordinaten der Debatte überborden das kartesische System und zeigen uns mit ihren Arten zu leben und sich in der Minga [6], der Versammlung, der Feier, der Tulpas [7] und der Rituale zu organisieren, andere mögliche Lebensweisen. Wenn sie uns fragen: „Rebellion? Revolution? Reform? [sagen wir,] das Unsere ist das wët wët fxi’zenxi“.

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In den Versammlungen der vorangegangenen Monate hatten die Komitees ihre Geschichte und darin den Weg all der „Ismen“, die es gegeben hatte und die noch kommen würden, mit ihren Aufträgen rekapituliert. Keiner davon hatte etwas Sinnvolles beigetragen. Und natürlich gab und gibt es immer auch diejenigen, die nur herkamen, um mitzunehmen, was sie nur konnten. Und die wieder gingen, als es nichts mehr zu holen gab. Das waren keine „Ismen“, das waren und sind einfach nur Halunken. Und Halunkinnen (im Sinne der Geschlechterparität).

Gut. Gesundheit und hier gibt es – neben Matsch und Würde – einen ganz anderen „Ismus“: den Zapatismus.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Der Capitán
August 2024

PS: Der komplette Text ist unter diesem Link zu finden: https://www.ecologiapolitica.info/63-andrea-fajardo-camacho/

 

Anm. d. Übers.:

[1] wörtlich „Chefs“ – Compañeras und Compañeros, die in der politischen Organisation mit Leitungsaufgaben betraut sind
[2] Andere:r – auf Spanisch in gegenderter Form
[3] auf Spanisch „ecologismo“ –  „-ismo“ entspricht im Deutschen dem Suffix -ismus
[4] auf Spanisch „desarrollismo“ – „-ismo“ entspricht im Deutschen dem Suffix -ismus
[5] beschreibt im Cauca die Kunst des Zusammenseins in allen Aspekten
[6] im Andenraum freiwillige kommunale Gemeinschaftsarbeit, die der gesamten Gemeinde zugutekommt; in Kolumbien heute vor allem auch Form des Protests meist indigener, kleinbäuerlicher, afrokolumbianischer und sozialer Bewegungen gegen Unterdrückung und Repression und des Kampfs für ihre politischen und sozialen Rechte
[7] an den Seiten offene Versammlungshäuser als Raum des Dialogs

 

Quelle: Enlace Zapatista

Mexiko