Der Mindestlohn und die Moral der Banditen

Es ist schon ein starkes Stück, wenn der Chef des Unternehmerverbandes und frühere Manager von ArcelorMittal, Michel Wurth, den OGBL-Mitgliedern im »Tageblatt« über anderthalb Seiten erklären darf, warum der Mindestlohn auf keinen Fall erhöht werden darf, nachdem zuvor die Gewerkschaft forderte, der gesetzliche Mindestlohn müsse um 10 Prozent angehoben werden. Hat die Gewerkschaftszeitung nun definitiv die Seiten gewechselt?

Die Hetze des Patronats gegen das gesetzliche Lohnminimum, das für die Ausbeutung der Arbeitskraft bezahlt werden muss, ist nicht neu, aber sie hat an Intensität zugenommen, seit der OGBL mit seiner 10-Prozent-Forderung an die Öffentlichkeit ging und die KPL für Aufmerksamkeit sorgte, indem sie die Berechnungen der »Chambre des salariés« über den großen Nachholbedarf beim Mindestlohn aufgriff, um eine Erhöhung von 20 Prozent zu fordern – übrigens als einzige Partei in diesem Wahlkampf.

Erst Anfang des Jahres hatte ein Vertreter der IDEA, eine Propagandavereinigung des Handelskapitals, für Empörung gesorgt, als er die Lüge in die Welt gesetzt hatte, der Mindestlohn genüge, »um anständig zu leben«. Wir kennen nicht das Einkommen dieses Herrn, das ganz gewiss nicht klein sein dürfte, aber wenn er versuchen müsste, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen, wie das zehntausende Lohnabhängige samt ihren Familien tun müssen, würde er sich mehr als sicher solcher Frechheiten enthalten.

Die »Argumente«, mit denen die Patronatsvereinigungen operieren, um eine Erhöhnung des Mindestlohnes zu verhindern, sind geradezu lächerlich, insbesondere wenn sie, wie das der UEL-Präsident tut, behaupten, die Unternehmen in Luxemburg würden das nicht verkraften.

Unterschlagen wird dabei systematisch, dass die Lohnkosten in Luxemburg insgesamt deutlich niedriger sind als in unseren Nachbarländern. Das zeigt, dass die Löhne im Vergleich zum geschaffenen Mehrwert, der zu einem immer größeren Teil in die Taschen der Aktionäre und Manager fließt, zu niedrig sind. Umso größer ist die Ausbeutungsrate der Lohnabhängigen – insbesondere der Mindestlohnbezieher.

Eine Irreführung der Öffentlichkeit ist es auch, wenn Herr Wurth behauptet, die Produktivität stagniere seit 20 Jahren.

In Wirklichkeit nahm die Produktivität laut STATEC seit 2012 im Durchschnitt in den meisten Wirtschaftsbereichen, darunter in der Industrie und im Handel, um 1,7 Prozent im Jahr zu – schneller wuchs nur noch die Flexibilität, die den Lohnabhängigen von den Unternehmern mit Unterstützung der Regierung aufgedrängt wurde.

In anderen Bereichen, zum Beispiel im Finanzwesen, ist es schwierig, die Entwicklung der Produktivität genau zu berechnen, abgesehen davon, dass die Bankiers sich ohnehin den größten Teil der Gewinne aus der Produktivität aneignen und damit an der Börse spekulieren, statt in die reale Wirtschaft zu investieren und für einen weiteren Produktivitätsschub zu sorgen.

Doch so sind diese Ausbeuter, die nicht nur möglichst niedrige Mindestlöhne beibehalten, sondern oft auch noch Kürzungen im Sozialbereich wollen, keinen Cent in die Familienkasse und in die Pflegeversicherung bezahlen und in der Krankenkasse systematisch bessere Leistungen und niedrigere Eigenbeteiligungen für die versicherten Lohnabhängigen verhindern wollen, dafür aber seitens der Regierung massive Steuergeschenke kassieren.

Herr Wurth behauptete im »Tageblatt«, Wirtschaft habe nichts mit Moral zu tun, aber wer die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen rechtfertigt – und darauf beruht die Grundlage des Kapitalismus, der hat eine Moral von Banditen.

Es ist an der Zeit, dass die KPL am 14. Oktober eine neue Tribüne bekommt, um dies vor dem ganzen Land anzuprangern und Alternativen zur Diskussion und zur Abstimmung zu bringen – auch eine 20-prozentige Erhöhung des Mindestlohnes.

Ali Ruckert

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek