Was bedeutet die Rückzugsentscheidung der USA aus Syrien?

Der Journalist Fehim Taştekin über die Hintergründe des Abzug der US-Truppen aus Syrien, 21.12.2018

US-Präsident Donald Trump hat mit seinem gestrigen Tweet „Wir haben den Islamischen Staat in Syrien besiegt“ eine Lawine an Reaktionen ausgelöst. Die darauffolgenden Stellungnahmen des Weißen Hauses, des Pentagon und des Außenministeriums zeigen, dass die Entscheidung ohne Abstimmung getroffen wurde. Unter den von Trump überraschten Personen befindet sich auch der Nationale Sicherheitsberater John R. Bolton.

„In diesem Moment setzen wir unsere Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort fort“, sagte Robert Manning, Sprecher des Pentagons, zunächst ausweichend. „Wir haben damit begonnen, US-Soldaten nach Hause zu holen, während wir in die nächste Phase dieses Einsatzes übergehen“, hieß es später von der Sprecherin des Weißen Hauses, Sarah Sanders.

Später äußerste sich ein US-Regierungsvertreter zu folgenden Details:

– Der Rückzug wird mit dem Ende der letzten Operation gegen den Islamischen Staat (IS) beginnen.

– Der Zeitplan für den US-Abzug aus Syrien umfasst 60 bis 100 Tage.

– Die Ausreise des Personals des US-Außenministeriums werde innerhalb 24 Stunden vorgesehen.

Einem Regierungsvertreter zufolge soll Trump die Entscheidung zum Abzug bei einem Telefonat mit dem türkischen Staatspräsidenten RecepTayyip Erdoğan am Mittwoch gefällt haben. Ein anderer Vertreter verneinte dies mit den Worten: „Er hat diese Entscheidung selbst getroffen. Er hat dies nicht mit Erdoğan besprochen, sondern ihn nur von dieser Entscheidung informiert”.

Ein anderer Vertreter der US-Regierung erklärte, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) am Mittwochmorgen über die Entscheidung des Präsidenten informiert worden seien

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Noch Anfang des Monats erklärte der US-Generalstabschef Joseph Dunford, dass die USA plane 35.000 bis 40.000 “lokale Kräfte” in Nordostsyrien auszurüsten und zu trainieren. Wie kam es nach dieser Aussage nun zu der plötzlichen Abzugsentscheidung, wo bislang nur 20 Prozent dieses Plans umgesetzt wurde?

Erinnern wir uns an zwei Dinge, um dieser Situation ihren Überraschungseffekt zu nehmen:

Das Wahlversprechen der Trump-Regierung im Jahre 2016 war der sofortige Rückzug aus Syrien. Doch aufgrund des Drucks vom Pentagon und den Verbündeten in der Golf-Region wurde dieser Plan in die Akten gelegt und die Mission in der Region mit drei zentralen Zielen aktualisiert:

– Der Sieg gegen den IS

– Der Rückzug iranischer Elemente

– Ein politischer Übergang in Syrien

Dem Plan zufolge wäre das kontrollierte Gebiet im Osten des Euphrat der wichtigste Trumpf in der Gestaltung der Zukunft Syriens. Dies hatte Rex Tillerson zur Sprache gebracht bevor er sich vom Amt des Außenministers verabschiedete.

Währenddessen hat Trump versucht seine Verbündeten im Golf miteinzubeziehen, indemer diese dazu animierte Militärs in die Region zu verlagern und finanzielle Unterstützung zu leisten. Während man von den Arabern vier bis fünf Milliarden Dollar erwartete, beliefen sich die Mittel die ins Euphrat-Projekt investiert wurden nur auf 350 Dollar. Es sollte eine “arabische Nato” gegründet und in Syrien eingesetzt werden. Auch dies war reine Fantasie.

Auch der Plan zur Eindämmung des Iran fruchtete nicht. Die Amerikaner sprachen davon mit der SDF von Deir ez-Zor bis zur Militärbasis bei al-Tanf an der Grenze zu Jordanien vorzurücken und den Grenzübergang von Syrien in den Irak für den Iran zu schließen. Die syrische Armee hat mit einer schnellen Offensive diesen Plan ins Wasser fallen lassen. Als die Strategie zum Zurückdrängen des Iran nicht wie geplant funktionierte, wurde die Zusammenarbeit mit Russland als direkter Weg gesehen.

Die Südfront, die unter Kontrolle des US-geführten Operationszentrums in Jordaniens Hauptstadt Amman stand, ist gegen das Versprechen Russlands iranische Kräfte 80 bis 100 Kilometer von der Grenze zu entfernen, mit dem Einstellen der US-Unterstützung zusammengebrochen. Diese Strategie war auch für den Iran vorteilhaft. Im Endeffekt gewann ihr Verbündeter Syrien. Mit dem Ende des IS war es offensichtlich, dass es für die USA schwierig werden würde unter dem Vorwand den IS zu blockieren, in Syrien zu bleiben. Darüber hinaus strapaziert es auch die türkisch-amerikanischen Beziehungen.

Deshalb hat die Suche nach einer neuen Strategie begonnen. Die Hauptidee ist, den politischen Wandel in dem Land zu kaufen, in dem man die 300 bis 400 Milliarden Dollar, die für den Wiederaufbau Syriens gebraucht werden, aufbringt. Dafür ist ein Dialog mit Damaskus unumgänglich. Während im Astana-Prozess die Türkei, der Iran und Russland an den Punkt gekommen sind ein Verfassungskomitee zu gründen, hat unter den Arabern die Position Wiederklang gefunden, dass man die Zukunft eines arabischen Landes nicht anderen überlassen dürfe. Die Delegation von Saudi-Arabien und der Vereinigten Arabischen Emirate in Damaskus, die solidarische Botschaft Bahrains nach Damaskus, die Öffnung des Grenzübergangs zwischen Jordanien und Syrien, der Damaskus-Besuch des sudanesischen Präsidenten Umar al-Baschir und die Kehrtwende der Arabischen Union sind im Rahmen dieser Position zu verstehen.

Wären die gewünschten Ergebnisse herausgekommen so hätte die USA ihren Geschichten in Syrien ein Ende setzten müssen. Doch die neue Strategie bedurfte nicht solch einen schnellen Rückzug. Genau an diesem Punkt wird der Türkei-Faktor relevant. Ankara hat mit dem Druck einer Operation in Ostsyrien Trump zur Wahl zwischen der Türkei und den Kurden gedrängt. Die US-Regierung hat von 2016 bis heute mit Taktiken der Beschwichtigung und des Ablenkens die Türkei hingehalten, um nicht an diesen Punkt zu kommen. Vielleicht hat Trump diesen Druck Ankaras auch als Chance genutzt, um zu seinem Originalplan zurückzukehren.

Die Türkei wiederzugewinnen und von der russischen Zange loszureißen war sowieso die vorherrschende Priorität in einem Flügel der US-Regierung. Mit dem Plan die Türkei an sich zu ziehen, hat der Außenminister am Dienstag den Verkauf eines Patriot-Raketenabwehrsystems an die Türkei gebilligt. Damit reagierte die USA auf den türkischen Kauf von russischen S-400-Raketensystemen. Der zweite Vorstoß in diesem Kontext entwickelt sich nun in Syrien.

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Was wird nun passieren? Es gibt viele Unklarheiten. Der Abzug kann sich zum einen in die Länge ziehen. Momentan ist von zwei bis drei Monaten die Rede. Während die Reaktionen gegen die Entscheidung Trumps weiter andauern, kann der Abzug sich verkomplizieren.

Darstellungen von politischen Vertretern in der New York Times zufolge können Argumente von Namen wie des Verteidigungsministers der Vereinigten Staaten James N. Mattis, dass es „Verrat an den Kurden sei“, „die Kurden Opfer eines türkischen Angriffs werden“, „der Einfluss Russlands und des Irans wachsen werde“ und „das eine Abkehr von den Kurden es für die USA erschweren würde das Vertrauen von lokalen Kräften in der Region von Afghanistan, Jemen bis Somalia zu gewinnen“, diesen Prozess auf andere Ebenen tragen. Und mit dem IS ist es noch nicht wie Trump erklärte, vorbei. Neben Mattis, erklärten auch der Außenminister der Vereinigten Staaten, Mike Pompeo, der Sonderbeauftragte für die Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat, Brett McGurk und der Syrien-Sondervertreter der USA, James Jeffrey, dass die Kontrolle des IS über bestimmte Gebiete weiter andauere. Selbstverständlich ist ein Abzug nicht gleichbedeutend mit einem Ende der Operationen gegen den IS. Die USA kann die Operationen über den Irak und die Türkei weiterführen.

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Ein unbekannter Punkt ist ob Trump im Gegenzug zum Abzug einen Deal mit Erdoğan getroffen hat. Der Abzug der amerikanischen Soldaten ist nicht gleichbedeutend mit einem grünen Licht für die von der Türkei geplante Operation. Doch trotzdem muss man die Frage stellen, ob Trump Erdogan folgendes erklärt haben könnte: „Wir ziehen uns zurück, seit ruhig und lasst uns diese Angelegenheit mit einem politischen Prozess regeln.“ Oder hat Trump die Rolle des Gendarmen, die für die Araber gedacht war, dem NATO-Verbündeten Türkei übertragen und möchte auf diese Weise die US-amerikanischen Interessen durchsetzen? Nicht wenige Vermutungen gehen in diese Richtung. LautNicholasHerasvom Center for a New American Security hat Trump den Worten Erdogans, die Lasten in Syrien von den Schultern der USA zu nehmen, Glauben geschenkt.

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Während ein neues Gleichgewicht entsteht, ist die Position Russlands in der Frage, ob die Türkei den Osten Euphrats überqueren wird oder nicht, kritisch. Es war eine nützliche Entscheidung für Russland den Weg für eine Operation frei zu machen, um sowohl die amerikanische Militärpräsenz in Schwierigkeiten zu bringen, als auch Risse zwischen zwei NATO-Verbündeten aufzumachen und die Kurden dazuzugewinnen mit Damaskus Kompromisse zu schließen. Doch der Abzug der USA kann diese Option nun durchkreuzen. Die Türkei passt anstelle der USA weder Russland, dem Iran noch Syrien. Zudem sieht Russland, dass man ohne die Miteinbeziehung der Kurden keine nachhaltige Lösung erzielen kann. Sie verheimlichen zu diesem Punkt auch nicht ihre Konflikte mit der Türkei.

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Es ist unklar was die SDF und die kurdische Bevölkerung in Syrien erwartet Als sie die Entscheidung trafen das Projekt mit Unterstützung der Amerikaner, die 2014 “uneingeladen” kamen, zu vergrößern und bis nach Rakka und Deir ez-Zor zu gehen, drei Erwartungen:

– Den IS als Gefahr aus dem Gebiet Euphrat zu entfernen

– Schutz vor möglichen Operationen der Türkei und syrischen Armee

– Politische Anerkennung

Auch amerikanische Diplomaten befanden sich in der Region, doch die Hoffnung auf eine Anerkennung der demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen war vergebens. Das Schweigen der USA bei der Aneignung der Kontrolle von Kirkuk weg von der kurdischen Regionalregierung hin zur irakischen Zentralregierung war im vergangenen Jahr ein schlechtes Signal für mögliche Entwicklungen in Syrien. In der Zwischenzeit gab es keine Verpflichtung, doch die amerikanische Partnerschaft hatte keine abschreckende Wirkung in Afrin.

Nun können die Kurden für eine Prävention eines möglichen türkischen Angriffs eine Vereinbarung mit der syrischen Regierung wagen. Dagegen wird die Türkei wohl weiterhin ihre militärische Präsenz als Abschreckungsfaktor nutzen um einen Status für die Kurden zu verhindern. Die Kurden stehen als „Blutgeld“ für einen erneuten Handschlag zwischen Ankara und Damaskus da. Die Hand der Kurden ist diesmal schwächer und es ist unklar ob Damaskus Ankara zufrieden stellen wird oder nicht. Und hier gewinnt die Einflussnahme Russlands an Bedeutung. Auch wenn die Türkei sich nicht dem Osten des Euphrat zuwendet, kann sie mit ihrer militärischen Kontrolle in Afrin, Jarablus, Al Rai, Azaz und Al Bab sowie mit ihren dutzenden Organisationen in Idlib weiterhin die Prozesse beeinflussen. Ob diese Rechnung aufgeht hängt natürlich von der Fortsetzung ihrer Partnerschaft mit Russland und dem Iran ab.

Im Original erschien der Artikel am 20.12.2018 unter dem Titel “ABD’nin çekilmesi ne anlama geliyor?” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.

Quelle:

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.