Fiktion »Sozialdialog«

Von Klassenkampf redet das Establishment nicht gern. Viel lieber von »Sozialdialog«. Statt sich zu bekämpfen, sollen Patronat und Salariat »partnerschaftlich« miteinander umgehen. In friedlichen Verhandlungen sollen sie Löhne und Arbeitsbedingungen festlegen, ohne daß es zum Arbeitskampf kommt. Ist dieser einmal nicht zu vermeiden, muß er in geordneten Bahnen verlaufen und schnell wieder beigelegt werden. So kommt angeblich das Beste für beide Seiten heraus.

Der Blick in die Geschichtsbücher scheint das zu bestätigen. Ist der Lebensstandard der Schaffenden nicht dank eines »gesunden Sozialdialogs« stetig gestiegen? Erreichen Gewerkschaften, die zusammen mit dem Patronat nach einer einvernehmlichen Lösung für einen Sozialkonflikt suchen, nicht mehr als kämpferische Kolleginnen und Kollegen, zum Beispiel in Frankreich?

Um zumindest die Fiktion eines »Sozialdialogs« aufrechtzuerhalten, ist eine entsprechende ökonomische Basis nötig. Wenn die Wirtschaft schwächelt, die Profitmargen zurückgehen und Arbeitsplätze abgebaut werden, ist Schluß mit lustig. Dann werden soziale Errungenschaften zurückgedreht – mit Hilfe der bisherigen »Sozialpartner« oder gegen sie. Der »Sozialdialog« steht auf tönernen Füßen.

Auch hinsichtlich der jüngeren Geschichte ist die Aussagekraft des Begriffs »Sozialdialog« begrenzt. Ob Achtstundentag, Index, Lohnfortzahlung bei Krankheit, höhere Löhne oder Arbeitszeitverkürzung – Verbesserungen erreichten die Schaffenden meistens nicht in Verhandlungen, sondern durch hart geführte und oft langwierige Arbeitskämpfe.
Heute gibt es offen ausgetragene Sozialkonflikte gerade in einstigen Hochburgen des »Sozialdialogs«, die in den letzten Jahren dereguliert und privatisiert wurden. Das gilt für die Post und die CFL ebenso wie für die Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime, die Luxair, die Cargolux und die Flugsicherung.

Auch in den hochorganisierten Industriebranchen findet kein »Sozialdialog« auf »Augenhöhe« statt. Denn die von der Bourgeoisie als »unternehmerische Freiheit« heruntergespielte Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel sorgt für eine Asymmetrie der Macht zulasten der Gewerkschaften, die die Vertreter des Salariats nur mit einer kräftigen Mobilisierung und nur vorübergehend ausgleichen können.
»Sozialdialog« ist vor allem eins: ein ideologischer Kampfbegriff. Er impliziert, Patronat und Salariat hätten gemeinsame Interessen, beispielsweise an der »Steigerung der Kompetitivität«. Übersetzt heißt das: Die Schaffenden sollen ihrem Patron dabei helfen, andere Betriebe – und damit andere Schaffende! – niederzukonkurrieren. Sind diese Bemühungen erfolgreich, fallen vielleicht auch ein paar Krümmel für sie ab. Aber nicht dauerhaft.

Marx hingegen geht von einem unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit aus. Demnach ist das Patronat wegen der kapitalistischen Konkurrenz gezwungen, die Ausbeutung »seiner« Arbeitskräfte zu verschärfen. Zum Beispiel durch die Senkung der Reallöhne, die Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit die Erhöhung der Arbeitsintensität oder die Kürzung betrieblicher Sozialleistungen. Dieser Klassenkampf von oben läßt sich viel leichter durchsetzen, wenn denen da unten nicht bewußt ist, daß er überhaupt stattfindet. Nämlich dann, wenn ihnen tagtäglich ihre Augen, ihr Verstand und ihr Gewissen mit ideologischen Begriffen wie »Sozialdialog« zugekleistert werden.

Oliver Wagner

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek