»Dunkelheit« über der EU-Kommission

Alle Jahre wieder: Im Vorfeld des »europaweiten Gedenktags für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime« am 23. August gaben die Vizepräsidentin der EU-Kommission »für Werte und Transparenz«, Věra Jourová, und Justizkommissar Didier Reynders eine Erklärung ab, die so beginnt: »Am 23. August vor 81 Jahren senkte sich mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt Dunkelheit über Europa. Der Vertrag zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion spaltete Mittel- und Osteuropa. Er hatte die Verletzung grundlegender Menschenrechte von Millionen von Europäerinnen und Europäern zur Folge und forderte Millionen von Menschenleben.«

Wie bitte? Die EU-Kommission maßt sich also an, geschichtspolitische Annahmen fernab jeglicher historischer Kenntnis und im Gegensatz zum Stand der Geschichtswissenschaft als unumstößliches Dogma zu verkünden?

Offensichtlich dient diese Legendenbildung dazu, die Sowjetunion und Nazideutschland auf die gleiche Stufe zu stellen, als gleich schuldig am Zweiten Weltkrieg. Das ist aber grundfalsch, eine ahistorische Lüge. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag von 1939 war das letzte Glied in einer langen Kette von bilateralen und multilateralen Bündnissen und Abkommen in den 30er Jahren, als die bürgerlichen Regierungen Europas versuchten, die erwartete Aggression Hitlers gegen andere Länder als das eigene zu lenken.

Vor allem die britische Regierung unter Premier Neville Chamberlain und die französische unter Premier Edouard Daladier betrieben eine sogenannte Appeasement-Politik gegenüber den Faschisten in Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien.

Höhepunkt dieser genauso feigen wie untauglichen Versuche, die fest zur Aggression entschlossene faschistische Bestie zu beschwichtigen, war das Münchner Abkommen vom 29. September 1938. Das aber kommt in der Erklärung der EU-Kommission genausowenig vor, wie jeglicher Hinweis auf die maßgebliche Verantwortung der deutschen und italienischen Großindustriellen für die Errichtung der faschistischen Herrschaft in ihrem Land.

Sinnbildlich für die Appeasement-Politik stehen die Fotos, die ausländische Olympiateilnehmer im Sommer 1936 in Berlin zeigen, die mit dem Hitlergruß antraten, während die Sowjetunion diese Spiele boykottierte. Chamberlain war auch der erste, der Hitler zum Sieg gegen die verhaßten Kommunisten in Spanien gratulierte. Dort stand ihm und Mussolini die Sowjetunion als einzige große Macht gegenüber.

Wenige Wochen bevor Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop nach Moskau reiste, begab sich eine Abordnung des britischen und französischen Militärs mit einem langsamen Dampfschiff (!) auf den Weg nach Leningrad, außerdem waren diese Herren nur die Stellvertreter von Stellvertretern ohne jegliche Entscheidungsvollmacht. Das war der Grund, weshalb die sowjetische Führung in der Stunde höchster Not nach einer anderen Möglichkeit suchte, dem ersten sozialistischen Land eine Atempause zu verschaffen.

Letztlich waren die sowjetischen Streitkräfte mit diesem Zeit- und Landgewinn imstande, den Krieg zu drehen. Die 300 Kilometer, die die Rote Armee aufgrund des Nichtangriffsvertrags mit Deutschland nach Polen vormarschiert war – übrigens hauptsächlich in dem Gebiet, das Polen im Krieg gegen Sowjetrußland 1919 bis 1921 erobert hatte –, waren am Ende bedeutsam für die Verteidigung Moskaus, die die sowjetischen Siege von Stalingrad bis Berlin und damit die Befreiung Europas vom Faschismus erst möglich machte.

Oliver Wagner

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek