Russland-Bilder und Feindbild Russland (I)

Die schon des längerem allenthalben erneut angeschwollene russophobe Grundstimmung ist bereits lange vor der jetzigen Eskalation des Ukraine-Konflikts in einen manifesten Russenhass umgeschlagen und gipfelt dieser Tage in einer kaum noch zu übertreffenden antirussischen Hysterie und Hetzkampagne.

Es ist schon erstaunlich, welche Dauerhaftigkeit diffamierende Stereotypen und politische Feindbilder „des Westens“ über Dekaden, ja Jahrhunderte haben können und erneut das Bild des „russischen Bären“ (im Unterschied zum ebenso sprichwörtlichen „Mütterchen Russland“) als Bedrohungsszenario eines zähnefletschenden Raub- und Untiers zu zeichnen imstande sind. Umso nötiger, diesen erschreckenden Umstand in groben Zügen geschichtlich nachzuzeichnen und historisch zu erhellen.

Erste Ursprünge heutiger Russland-Bilder im 15. und 16. Jahrhundert

So aufschlussreich es hinsichtlich der wechselhaften Russland-Bilder wäre, geschichtlich noch viel weiter auszugreifen, steht hier lediglich das Feindbild Russland des ausgehenden 19. sowie des 20. Jahrhunderts und die teils bis in die Gegenwart reichenden russophoben Kontinuitätslinien (in ihrem ungebrochenen Duktus, ihrem teilweisen Wandel und ihrem gleichzeitigen Auf und Ab) im Fokus des Interesses. Freilich die ersten Russland-Bilder angeblicher Merkmalsbestimmungen „Russlands“ und charakterlichen Wesensart „des Russen“ – besser: Klischees, Stereotypenund diffamierenden Bilderreichen bis ins 15. Jahrhundert zurück und machten im 16. Jahrhundert erstmals groß Karriere. Den Beginn des im Westen des europäischen Kontinentes seither allzeit verbreiteten Bildes vom – schlicht abwertend gemeinten und aus dem Okzident ausschließenden – „asiatischen, barbarischen Russland“ legte Ende des 15. Jahrhunderts auf dem Hintergrund der Herausbildung Moskaus zum neuen Zentrum der russischen Welt wohl Johannes von Glogau. Der Krakauer Philosoph ist es auch mit dem die pejorativ verstandene Orientalisierung Russlands ihren Anfang nimmt. Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts leitete dann Sigismund Freiherr von Herberstein als Diplomat zweimal eine kaiserlich-habsburgische Gesandtschaft in das „fremde“ Land im Osten. Sein veröffentlichter Reisebericht fand großes Interesse und bestimmte nachhaltig das Bild des „starken Bären“ im Osten. Gleichzeitig verbreitete der Reisebericht bis heute nachwirkende Vorurteile und kulturelle Missverständnisse. In einer 1710 in Wien veröffentlichten Beschreibung der vermeintlichen Eigenschaften von Völkern wurden die Moskowiter dann mit Eseln verglichen und als boshaft, grob und grausam charakterisiert.

Geopolitische Bilder und deren soziale und politische Differenzierung

Mit diesen wenigen Hinweisen auf den Beginn und die Dauerhaftigkeit der Russland-Bilder des Westens denn auch schon in Siebenmeilenstiefeln in die neuere Zeit der wechselhaften, herrschenden geopolitischen Bilder. Herrschende oder zumindest vorherrschende „geopolitische Bilder“ darum, weil differenzierend mit Hannes Hofbauer zu vermerken ist: „In der wechselhaften Vorstellung, die sich Westeuropäer und insbesondere Deutsche über Russen und Russland im 19. Jahrhundert machten, spiegelt sich nicht nur die Geschichte des Kontinents wider, sondern auch die soziale und politische Differenz, die mit der Französischen Revolution offenkundig geworden war.“ Sprich: „Der Russe als Projektion unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansichten konnte mal als Sinnbild des Befreiers von als national erlebter Unterdrückung, mal als Bewahrer der alten Feudalordnung und in wieder anderen Zusammenhängen als Bedrohung derselben auftauchen.“

Politische Marksteine, Wandelhaftigkeit und Divergenzen des Russland-Bilds im langen 19. Jahrhundert

Als jeweilige Marksteine und Wandlungspunkte dazu seien stichwortartig nur genannt: Die Zurückschlagung des napoleonischen Feldzugs gegen Russland 1812 aus den Tiefen des Landes (die auch heute im Westen noch untrennbar mit dem Namen Kutusow’s hochgehalten wird), die gemeinsame „Völkerschlacht von Leipzig“ 1813 gegen Napoleon (in der sich, wie es in der damaligen Kriegspropaganda hieß, das Blut der gefallenen deutschen, österreichischen und russischen Soldaten am Schlachtfeld vermischte), die 1815 geschlossene „Heilige Allianz“ des russischen Zaren, österreichischen Kaisers und preußischen Königs, die 1848er Revolution (und ihre Niederschlagung in Ungarn mit Hilfe des von den Habsburgern zur Hilfe gerufenen Zaren), die sich danach mit den von Russland unterstützen resp. genutzten nationalen Erhebungen am Balkan der 1870er Jahre bzw. dem Waffengang gegen das Osmanische Reich jedoch zuspitzende Konkurrenz zwischen Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich sowie Großbritannien und Russland, der später in Petersburg ihre Ausgang nehmenden und sich schnell über das ganze Land erstreckenden 1905er Revolution gegen die Selbstherrschaft des Zaren … Historische Marksteine und Wendepunkte an denen das Russland-Bild der Fürstenhäuser und Adelsgeschlechter, des liberalen Bürgertums, der Arbeitenden, Subalternen und unterdrückten Völker jeweils auch teils starke Divergenzen aufwies. Das Bild „Russlands“ spannte sich dabei vom Garanten der alten Feudalordnung, über eine harsche Russlandfeindlichkeit bis hin zum offenen Russlandhass als Hort der Reaktion (vor dem auch führende Köpfe der ArbeiterInnenbewegung seinerzeit nicht immer gefeit waren), dem sich vom einstigen Bundesgenossen zum nunmehrigen imperialen Gegner im Kampf um die Aufteilung der Welt wandelnden „russischen Bären“, bis zum Befreier von nationaler Unterdrückung. Das Bild „des Russen“ selbst blieb dabei zunächst recht wirkmächtig als dumper Bauerntölpel, primitiv, faul, schmutzig, versoffen, brutal und barbarisch charakterisiert (woran auch die punktuellen Erfahrungen mit den nach Europa emigrierten russischen Revolutionären kaum was änderten), bis die russische Arbeiterschaftund Subalternen des Landes 1905 schließlich das Zepter des weltrevolutionären Prozesses in die Hand nahmen.

Der Erste Weltkrieg, das Feindbild Russland, die mörderische Kriegsideologie 1914 und die Antizipation des Nazi-Faschismus

Mit der Zuspitzung der innerimperialistischen Widersprüche um die Neuaufteilung der Welt zum Ersten Weltkrieg und des deutschen „Drang nach Osten“ avancierte Russland zur Verkörperung des Asiatischen, Barbarischen und der innerchristlichen Konkurrenz (Orthodoxie). Noch wenige Jahrzehnte zuvor Bundesgenosse oder anderwärts mit England und Frankreich zu den „heiligen drei Königen“ gezählt, die dazu berufen seien, dem Orient die Segnungen europäische Zivilisation und das Christentum zu bringen, galt das russische Reich im zum „Heiligen Verteidigungskrieg“ umgelogenen verbrecherischen wie räuberischen Waffengang den Mittelmächten nun als Inkarnation der Bedrohung West- und Mitteleuropas.

Und das Gros der führenden Sozialdemokraten reihte sich entsprechend ihres Sündenfalls der Zustimmung zum Ersten Weltkrieg entsprechend ein. Die Extra-Ausgabe des „Vorwärts“ der deutschen Sozialdemokratie vom 4. August 1914 anlässlich der Bewilligung der Kriegskredite schrieb beispielsweise in kriegerischer Burgfriedensmanier und politischem Feindbild-Denken gegen Russland: „Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren.“

Anknüpfend an russophobe Traditionslinien durften in der Propaganda zur Integration der Bevölkerung selbst die Hunnenzüge die aus der Weite der russischen Steppe bis nach Mitteleuropa gelangten nicht fehlen. Dem rassistisch aufgeladenen Russland- und Russen-Bild entsprach denn auf dem Punkt auch das bis in den Alltag gesickerte rassistische Wort jener Tage: „Jedem Russ an Schuss!“ bzw. „Jeder Schuss ein Russ!“.

Nicht anders erging es zugleich zig-Tausenden Ruthenen in Galizien, Serben oder Slowenen, die auf den bloßen Verdacht hin, für Russland zu spionieren, auf kaiserlich gedeckten Befehl der Offiziere der k.u.k. Armee an Ort und Stelle hingerichtet wurden. Und die damalige Spionenhysterie war geradezu pathologisch.

Schon zwei Jahre zuvor hatte wiederum Kaiser Willhelm II. 1912 im „Kriegsrat“ vom kommenden „Endkampf der Slawen und Germanen“ gesprochen, in dem sich – in seiner Sprache – „die Angelsachsen auf Seiten der Slawen und Gallier“ finden werden. Ein „Endkampf“, den er die spätere Geschichte gleichsam antizipierend, als „eine Rassenfrage“ ansah. Diesem Russland-Bild entsprechend war zu jener Zeit im bekanntesten und weitverbreitetsten deutschen Geographielehrbuch, dem „Seydlitz“, denn auch schon 1908 zur Wesensart und den charakterlichen Adjektiven „der Russen“ zu lesen: „Die russischen Stämme sind Halbasiaten. Ihr Geist ist unselbständig. Wahrheitssinn wir durch blinden Glauben ersetzt, Forschungstrieb mangelt ihnen. Kriecherei, Bestechlichkeit, Unreinlichkeit sind echt asiatische Eigenschaften.“

Der Rote Oktober und Verbannung Russlands aus Europa

Mit der Oktoberrevolution 1917 erfolgte dann die direkte Verbannung Russlands aus Europa. Denn mit der Machtübernahme der Bolschewiki, wie Oswald Spengler als Wortführer eines breiten Meinungskonsens erklärte, habe Russland die „‘weiße‘ Maske“ abgelegt. Demgemäß endgültig „wieder eine asiatische, ‚mongolische‘ Großmacht“ geworden – „mit brennendem Hass gegen Europa“ –, sei es mit seinem Aufruf an die Kolonialvölker und -länder sich zu erheben, nunmehr integrierender Bestandteil „der gesamten farbigen Bevölkerung der Erde, [die es] im Gedanken des gemeinsamen Widerstandes“ gegen Europa durchdringt.

Ausschlüsse, Verbannungen und Wiederaufnahmen im Abendland

Aber schon vor der sozialistischen Revolution war Europa mehr noch als ein geographischer Ort ein Legitimationsprinzip unter der Dichotomie europäische Zivilisation vs. Barbarei. Die Zuordnungen wechseln dabei von der Französischen Revolution und den antinapoleonischen Befreiungskriegen, über den deutsch-französischen Krieg, aber auch etwa die USA (dahingehend vielfach auch ihresteils unter die Kategorie Europa subsumiert) den Sezessionskrieg betreffend bis zu ‚kleineren‘ Konflikten und zum Ersten Weltkrieg.

Auch die Entente-Staaten England und Frankreich (und später die USA) schließen die Deutschen im Ersten Weltkrieg als „Hunnen“ und „Vandalen“ aus Europa und dem Okzident aus. In gewissen Kreisen Englands galt Deutschland Willhelm des II. aufgrund seiner antizaristischen Propaganda unter den russischen und polnischen JüdInnen als von „aschkenasischen Hunnen“ beherrschtes, sprich: „jüdisches“ Land. Umgekehrt findet die deutsche Kriegsideologie im Kriegseinsatz farbiger Kämpfer aus den Kolonien den ‚Beweis‘, dass Frankreich ein „europäisch-afrikanisches“ Land sei, kontaminiert mit „Barbaren“.

Auf diese Ausschlüsse und Verbannungen kann freilich auch eine Wiederaufnahme in Europa erfolgen. Nach dem Ersten Weltkrieg und allem voran angesichts der Herausforderung durch die russische Oktoberrevolution hörten für Churchill die Deutschen auf, Hunnen zu sein. „Wenn Deutschland den Bolschewismus bekämpft und das Bollwerk gegen ihn bildet, kann es den ersten Schritt zur endlichen Wiedervereinigung mit der zivilisierten Welt unternehmen.“

Die ausnehmend besondere Kontinuitätslinie des Feindbild Russlands und seines Ausschlusses aus Europa

Dem bolschewistischen Russland selbst freilich blieb eine solche Wiederaufnahme versperrt, es blieb verbannter Paria par excellence. Und jedenfalls, so erklärt der Magnat der US-amerikanischen Automobilindustrie, Henry Ford 1920, sei das „jüdisch-bolschewistische Komplott“, wie er die Oktoberrevolution nennt, „rassischen, nicht politischen Ursprungs“. Darin bereitet sich allerdings bereits das spätere Nazi-Ideologem einer „rassisch-völkischen Bedingtheit der bolschewistischen Revolution“ und des „jüdisch-bolschewistischen“ Charakters der Sowjetunion vor. Im bolschewistischen Russland, so der Chefideologe der Nazis, Alfred Rosenberg, nur wenige Jahre danach, die vielschichtigen russophoben Traditionslinien des Westens mit dem mörderischen Antibolschewismus unterm Hakenkreuz und dessen rassistischem „Endkampf gegen das Slawen- und Russentum“, gegen die „slawischen Untermenschen“ und „asiatischen Horden“ zu einem Konglomerat verbindend, trete zudem die „Wildheit der Steppe“ in „neuer Form“ in Erscheinung. „Der Bolschewismus“, schrieb er in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts 1930“ denn auch, bedeute „die Empörung des Mongoliden gegen nordische Kulturformen“, „bedeutet den Versuch, Europa überhaupt abzuwerfen“.

Bis in die Gegenwart – Ausblick auf Teil II.: Vom Nazi-Faschismus, über den Kalten Krieg bis zur ungewünschten Konsolidierung der Russländischen Föderation ab 2000

Freilich ist ein solches Russland-Bild heute nicht mehr salonfähig. Gleichwohl ist es erstaunlich und erschreckend zugleich, in welchen Kontinuitätslinien, Stereotypen, Vorurteilenund diffamierenden Charakterisierungen „Russlands“, „des Russen“ oder auch der Dämonisierung „des Kremls“ sich das Feindbild Russland über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hielt, in vielschichtigen Strängen bis in die Gegenwart wirkt und aktuell in schier unverhohlener Form wieder die Bühne beherrscht – bis zum Ausschluss aus Europa oder ans Zeug geflickten Vorwurf des Unterfangens seinesteils „Europa überhaut abzuwerfen“. Oder in den aktuellen Worten eines Journalisten wie Hans Rauscher: Putin „hat sich einfach selbst ausgeschlossen aus dem, was man ‚europäisches Haus‘ nennt. Das ist nicht mehr zu reparieren. … es muss jedem hier klar sein, dass er ein Feind ist.“ Um diese Exkommunikation in ihrer ganzen Genese zu verstehen, ist es aber zunächst notwendig, dass wir in einem folgenden II. Teil das Feindbild Russland von den Nazis, über den Kalten Krieg bis zu Putin etwas genauer nachzeichnen.

Quelle: KOMintern