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„Unter diesen Bedingungen ist Freiwilligkeit ein Witz“

Übernommen von Unsere Zeit:

Michael Quetting, Krankenpfleger und ehemaliger Gewerkschaftssekretär, war eine prägende Figur in der Bewegung zur Reduzierung der Arbeitsbelastung in Krankenhäusern. Seine Bemühungen im Saarland gipfelten 2015 bis 2018 in der Bewegung „Pflegestreik Saar“. Das Ziel, einen Flächentarifvertrag für alle Krankenhäuser im Saarland abzuschließen, konnte nicht erreicht werden. Dafür gelang es, an der Uniklinik des Saarlandes eine Schuldrechtliche Vereinbarung mit individuell einklagbarem Belastungsausgleich als neues tarifpolitisches Mittel durchzusetzen. Heute ist Michael Quetting ehrenamtlich im Ortsverein Saar-Blies der ver.di tätig. UZ sprach mit ihm über die Tarifeinigung im Öffentlichen Dienst, den Angriff auf die Arbeitszeit und Möglichkeiten betrieblichen Widerstands.

UZ: In der Tarifeinigung für den Öffentlichen Dienst ist eine freiwillige Option zur Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden vorgesehen. Wie verhält sich das mit Freiwilligkeit im Gesundheitswesen?

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Michael Quetting

Michael Quetting: Sie hat einen bitteren Beigeschmack. Man wird aufgefordert, sich freiwillig zu melden, um in der Freizeit Familie und Freunde zu verlassen, um Schichten zu übernehmen. Kolleginnen und Kollegen verzichten freiwillig auf Pausen und verlängern freiwillig ihre Schichten, weil sie die Arbeit sonst nicht schaffen. Unter diesen Bedingungen ist Freiwilligkeit ein Witz.

Wie man hört, hat sich die Verhandlungskommission sehr ins Zeug gelegt, um die Freiwilligkeit dieser Erhöhung zu gewährleisten. Das will ich nicht gering schätzen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten der betrieblichen Auseinandersetzungen. Positiv ist, dass ver.di die Vereinbarung 2029 ohne Nachwirkung kündigen kann.

Allerdings, das wird nicht automatisch passieren. Wir müssen unsere gewerkschaftlichen Gruppen darauf einstellen und unsere Inte­ressenvertretungen schulen und vorbereiten. Wir werden Überzeugungsarbeit leisten müssen, denn natürlich werden Kollegen die Möglichkeit der Arbeitszeitverlängerung auch nutzen wollen, da sie ja extra bezahlt wird. Das ist angesichts der materiellen Lage verständlich.

UZ: Es geht ja gleich weiter. Die neue Bundesregierung will das Arbeitszeitgesetz aufweichen und eine höhere tägliche Arbeitszeit ermöglichen. Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung und gegen Überstunden ist in der Defensive. Gibt es Möglichkeiten, diesen Trend umzudrehen?

Michael Quetting: Der Kampf um die Arbeitszeit ist in eine neue Phase getreten. Schichten von 12 oder 13 Stunden sollen möglich werden. Erkämpfte Verbesserungen sollen rückgängig gemacht werden. Mit der Öffnung zur 42-Stunden-Woche haben wir in diesem Kampf eine wichtige Schlacht verloren. Wir fallen hinter den Achtstundentag bei einer Fünftagewoche zurück. Es geht um die geplante Abschaffung von Schutzgesetzen, um unser Anrecht auf Feierabend, Erholung und gesellschaftliche Tätigkeit.

Um aus dieser Defensive herauszukommen, müssen wir die Verteidigungsschlacht koordiniert führen – politisch, tariflich und ganz besonders betrieblich. Politisch wird das gemeinsame Vorgehen der Gewerkschaften wichtig sein. Wir brauchen eine Kampagne gegen die Vorhaben der Regierung. Sie sind ein Angriff auf alle Bürgerinnen und Bürger. Die Daseinsvorsorge wird zusammengestrichen. Die Kranken und Schwächsten der Gesellschaft sollen bluten: Weniger Daseinsvorsorge, also schlechtere Krankenversorgung, miserable Pflege, keine Verkehrswende, denn wir brauchen das Geld ja für Aufrüstung. Der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Arbeitszeitverlängerung einerseits und Hochrüstung andererseits muss thematisiert werden.

Mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den Tarifkommissionen sollten wir in einen intensiven Austausch kommen, damit sich der Kardinalfehler des TVÖD-Abschlusses nicht reproduziert. Das wird sehr schwierig werden und wird nur funktionieren, wenn genug Druck im Kessel ist.

UZ: Wo sind die Druckpunkte?

Michael Quetting: Betrieblich gibt es eine Reihe von Anknüpfungspunkten. So lässt sich im Gesundheitswesen zum Beispiel die Pausenregelung angreifen. Nicht nur, dass die Pausen im Wechselschichtdienst nicht bezahlt werden, sie werden oftmals auch nicht genommen. Würden die Pausen korrekt genommen, dann würde das System in großen Teilen zusammenbrechen.

Nutzen wir das organisiert als Druckmittel. Wir können als Team die Pausen durchsetzen, wir müssen nicht anwesend sein und spätestens mit dem Beginn der Pause kann diese nicht mehr unterbrochen werden. Spannend ist dabei oftmals der Nachtdienst, den viele allein bewältigen müssen. Wie soll man da eine Pause machen können? Auch Betriebs- und Personalräte und Mitarbeitervertretungen können hier initiativ werden, denn die Pausenregelung unterliegt der Mitbestimmung. Noch ist der Kampf nicht verloren, wir müssen ihn nur klug aufnehmen und dabei lernen, dass wir selbst eine Kraft sind.

UZ: Du hast die Erfahrung gemacht. Wie kann es gelingen, diese Kraft zu entfalten?

Michael Quetting: Die Kämpfe für Entlastung zeichneten sich dadurch aus, dass wir ganze Teams direkt angesprochen und aktiviert haben. Leidensdruck und Wut sind überall vorhanden. Aber wo sind die, die verändern wollen?

Wir müssen der Reihe nach Kollektive ansprechen und dabei systematisch Schritte der Selbstermächtigung weg von der Stellvertreterpolitik gehen. Unser Ziel ist es, Teams zu widerständigen Einheiten aufzubauen, die zusammen die Bewegung tragen können. Gerade die Arbeitsbelastung und die Tatsache, dass man aufeinander angewiesen ist, führen dazu, dass die Teams enge soziale Zusammenhänge bilden. Dieser Zusammenhang ist ein Schlüssel für gewerkschaftliche Organisierungsprozesse.

Natürlich geht es auch um Köpfe. Jedes Team verfügt über eine Persönlichkeit, die sich durch fachliche Kompetenz, Identifikation mit dem Beruf und positiver Autorität auszeichnet. Diese Person, die oft noch gar nicht gewerkschaftlich organisiert ist, muss gefunden werden. Haben wir diese Personen gefunden und sie zu Teamdelegierten gemacht, dann gilt es, gemeinsame Willensbekundungen zu formulieren und damit eine Stärke im Betrieb sichtbar werden zu lassen. Das nennen wir Stärketest.

UZ: Im Saarland habt ihr unter anderem mit Ultimaten gearbeitet …

Michael Quetting: Das ist ein gutes Mittel, um Widerstandsnester zu entwickeln. Teams fordern ultimativ Maßnahmen zur Entlastung ein und drohen damit, andernfalls freiwillige Leistungen – wie das Einspringen außerhalb des Dienstplans – zu verweigern. So lässt sich ein struktureller Missstand aufgreifen, denn die Erfahrung zeigt, dass ein reibungsloser Ablauf im Krankenhaus nur funktioniert, wenn sich zum Beispiel Pflegepersonen über ihre arbeitsvertraglichen Pflichten hinaus engagieren.

Die Methode der Ultimaten versucht, die gestiegene Produktionsmacht der Pflegenden zu nutzen, um aus der disziplinierenden Form der Kollegialität Solidarität zu entwickeln. Der Erfolg stellt sich durch Nichtstun ein. Das ist natürlich plakativ ausgedrückt und wird der erfolgreichen kollektiven Kampfform speziell im Gesundheitssektor nicht gerecht. Diese kollektive Kampfform ist aber auch kein Hexenwerk, ich selbst habe von 2011 bis 2017 neun Ultimaten als Hauptamtlicher begleitet und alle haben wir gewonnen.

Quelle: Unsere Zeit

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