24. Juni 2025

24. Juni 2025
KlassenkampfMedien

Fake-News in Tagesthemen: „Arbeitszeit-Studie“ des IW existiert nicht!

Übernommen von arbeitsunrecht in deutschland:

Nachfragen der Aktion gegen Arbeitsunrecht brachten ans Licht: Eine viel zitierte Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zur Arbeitszeit in Deutschland existiert überhaupt nicht! Auf Nachfrage der Aktion gegen Arbeitsunrecht korrigierten die Webseite tagesschau.de ihren Online-Bericht am 20. Mai 2025, Spiegel-Online folgte am 23. Mai 2025.

Die ARD-Tagesthemen vom 18. Mai 2025, die mit den Fake-News einer nicht existenten Studie aufmachten, sind weiterhin online zu sehen.1 Ebenso Berichte in t-online.de,2 RP-Online,3 Tagesspiegel,4 Merkur5 und unzählige andere.

„Diskussion um Arbeitszeit“ Wie kommen Fake-News als Top-Meldung in die Tagesthemen?

Am Sonntag, 18. Mai 2025 wurde der neue Papst Pius XIV. in Rom in sein Amt eingeführt, der 1. FC Köln stieg (mal wieder) in die Bundesliga auf, Präsidentschaftswahlen in Polen und Rumänien, humanitäre Katastrophe und Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg…

Womit machte Jessy Wellmer um 22:45 die Tagesthemen auf? „Diskussion um Arbeitszeit“. Wörtlich sagte die Tagesthemen-Moderatorin:

„Deutschland das Null-Bock-Land. Sind wir wirklich zu bequem? Wenn Kanzler Merz davon spricht, dass wir mit 4-Tage-Woche und Work-Life-Balance das Wohlergehen des Landes nicht sichern, schwingt ein leiser Vorwurf wohl durchaus mit. In den 70ern haben die Beschäftigten hierzulande länger gearbeitet, sagt das Institut der deutschen Wirtschaft, welches zudem in einer neuen Studie darlegt, dass wir im internationalen Vergleich auch nicht wirklich gut weg kommen. Da belegt Deutschland im Ranking der Wirtschaftsnationen den drittletzten Platz.“

„Nun ja…“ IW als Stichwortgeber der BILD am Sonntag. AFP sorgt für Verbreitung

Die Aktion gegen Arbeitsunrecht hat den erstaunlichen Vorgang rekonstruiert:

Eine dünne „IW-Nachricht“ vom Sonntag, 18. Mai 2025 bliesen die BILD-Redakteure Felix Rupprecht und Luisa Volkhausen in Bild am Sonntag zur „Analyse“ auf,6 den IW-Autoren Holger Schäfer beförderten sie kurzerhand zum „Studien-Autoren“.7

Die Nachrichtenagentur AFP machte aus der an sich belanglosen wie substanzlosen IW-Nachricht dann eine „Studie“ und deutsche Leitmedien übernahmen das Gebräu offensichtlich ungeprüft – die meisten bis heute – um eine Fleiß-Debatte zu entfachen, die auf längere Arbeitszeiten und einseitige Flexibiltät zu Lasten von Lohnabhängigen und ihren Familien zielt.

Der IW-„Wissenschaftler“ Schäfer, der seine dürftigen Erkenntnisse gleichzeitig als Gastautor im Focus präsentieren konnte,8.1 kommentierte den erstaunlichen Vorgang auf Nachfrage per Email lapidar:

„Von uns kam am Sonntag nur eine Pressemeldung. In der Berichterstattung wurde daraus eine Studie. Nun ja.“ (Nebenbei bemerkt: Selbst diese Auskunft ist mit Blick auf die IW-Webseite falsch. Es existiert keine Pressemitteilung des IW vom 18. Mai 2025, sondern lediglich eine „IW-Nachricht“.)

Gebührenfinanzierte Schlamperei. So demontieren sich die Öffentlich-Rechtlichen selbst

Dass private Medienkonzerne eine Kampagne der Arbeitgeberverbände übernehmen, erscheint irgendwo logisch, vielleicht sogar verständlich – Bild-Redakteur Felix Rupprecht hat nach eigenen Angaben vor kurzem noch als PR-Mann des BDI gearbeitet.8

Für gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Medien wie die ARD ist dieses Vorgehen allerdings nicht hinnehmbar. Es ist im Gegenteil deren Aufgabe, ein Gegengewicht zu profit-orientierten, kapitalistischen Medienmonopolen zu bilden. Die NDR-Redaktion der Tagesthemen verstößt nach Auffassung der Aktion gegen Arbeitsunrecht gegen die Sorgfaltspflicht aus §6 des Medienstaatsvertrags:

„Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen.“9

Die Aktion gegen Arbeitsunrecht fordert eine Aufklärung, wie solche redaktionelle Schlamperei (oder sogar gezielte Desinformation) möglich ist. Wir fordern eine Gegendarstellung in den Tagesthemen!

Agence France Press als Fake-News-Verteiler

AFP verstößt nach unserer Auffassung gegen eigene redaktionelle und ethische Standards (AFP-Faktencheck-Stylebook & Best-Practice-Beispiele), welche die Nachrichtenagentur auf ihrer Webseite prominent präsentiert.10 Auch hier erscheinen Aufklärung, Gegendarstellung und eine Entschuldigung angebracht.

In einer weiteren Pressemitteilung werden wir in der kommenden Woche inhaltlich sowie methodisch auf den dürftigen, irreführenden und sozialschädlichen Gehalt der so genannten „Fleiß-Debatte“ eingehen. Wir bleiben dran. Stay tuned: Abonnieren Sie unseren kostenlosen Email-Presse-Verteiler! https://arbeitsunrecht.de/presse

Soviel nur als kurze Hinweise:

  • Der IW-Veröffentlichung liegt eine OECD-Studie zum internationalen Vergleich von Arbeitszeiten zu Grunde. Diese ist mit größter Vorsicht zu genießen, was die OECD selber klar ausweist.11 Der Grund: In den Nationalstaaten werden, Arbeitszeiten, Überstunden und Mehrarbeit sowie eine womöglich riesige Dunkelziffer an Schwarzarbeit bis hin zur Sklaverei völlig unterschiedlich erhoben und betrachtet.
  • Volkswirtschaftlich sind lange Arbeitszeiten kein Maßstab für eine gesunde Wirtschaft, sondern im Gegenteil ein Maßstab für geringe Produktivität und mangelnd Effizienz. Eine Gesellschaft ohne Waschmaschinen mag „fleißiger“ sein als eine Industrienation, den Weltmarkt wird sie sicher nicht erobern.
  • Bullshit-Jobs, die in finanzmarkt-gesteuerten Volkswirtschaften wie England bis zu 40% der lohnabhängigen Beschäftigung ausmachen können, zeichnen sich gerade durch lange, gleichzeitig sinnlose und völlig unproduktive Arbeitstage aus.
  • Innovation und Erfindergeist entstehen anthropologisch betrachtet gerade aus dem Drang, unsinnige Arbeit zu vermeiden, Plackerei überflüssig zu machen und dadurch Zeiten der Muße zu erlangen. Muße ist die Grundlage der Philosophie und des Erfindungsreichtums.
  • In einem achtstündigen Arbeitstag werden zumeist nur 3,5 bis 4 Stunden hoch konzentrierter Arbeit geleistet. Das ändert sich kaum, wenn länger gearbeitet wird.
  • Kapitalistisch betrachtet sind die Lohnstückkosten die entscheidende Größe für die Bemessung von Produktivität, diese sinken nicht durch längere Arbeitszeit sondern entweder durch Einsatz von Maschinen, Software, Hilfsmitteln, effizienterer Arbeitsorganisation etc. oder aber durch Lohn-Dumping und verschärfte Ausbeutung.
  • Die Fixierung auf lange Arbeitszeiten ist historisch eher typisch für Zwangsarbeits- und Sklavenhaltergesellschaften (etwa die Südstaaten der USA) oder eine Kriegs- und Nachkriegswirtschaft (Deutschland im Weltkrieg und danach), nicht für innovative Industrie-Nationen.

Quellen / Anmerkungen

2 afp/t-online: Neue Studie – Fast in keinem Industrieland wird so kurz gearbeitet wie hier, t-online, 18.5.2025, https://www.t-online.de/finanzen/aktuelles/wirtschaft/id_100727906/arbeitszeit-deutsche-arbeiten-im-oecd-vergleich-deutlich-weniger.html, abgerufen am 28. Mai 2025

4 AFP: Drittletzter Platz in Studie: Deutsche arbeiten deutlich weniger als Bewohner anderer Wirtschaftsnationen, Tagesspiegel, 18.5.2025, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/drittletzter-platz-in-studie-deutsche-arbeiten-deutlich-weniger-als-bewohner-anderer-wirtschaftsnationen-13711171.html, abgerufen am 28. Mai 2025

5 Max Schäfer: Deutsche arbeiten viel weniger als andere Nationen – Institut hat zwei zentrale Forderungen, Merkur 18.5.2025, https://www.merkur.de/wirtschaft/deutsche-arbeiten-viel-weniger-als-andere-nationen-institut-hat-zwei-zentrale-forderungen-zr-93738556.html, abgerufen am 28. Mai 2025

6 Holger Schäfer: Arbeitszeiten: Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche, IW-Nachricht, 18.5.2025, https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/holger-schaefer-griechen-arbeiten-135-stunden-im-jahr-mehr-als-deutsche.html, abgerufen am 28. Mai 2025

7Felix Rupprecht / Luisa Volkhausen: Die Wahrheit über Arbeit in Deutschland, BILD am Sonntag, 18. Mai 2025, Seite 4.

8 Felix Rupprecht, https://www.bild.de/autor/felix-rupprecht, abgerufen 28.5.2024

8.1 Holger Schäfer: Arbeitszeiten: Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche, IW-Nachricht, 18.5.2025, https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/holger-schaefer-griechen-arbeiten-135-stunden-im-jahr-mehr-als-deutsche.html, abgerufen am 28. Mai 2025

10 Redaktionelle und ethische Standards von AFP, https://faktencheck.afp.com/Redaktionelle-und-ethische-Standards-von-AFP, abgerufen am 28. Mai 2025

11 „The data are intended for comparisons of trends over time; they are unsuitable for comparisons of the level of average annual hours of work for a given year, because of differences in sources and methods of calculation.“ Quelle: Hours worked, oecd.org, https://www.oecd.org/en/data/indicators/hours-worked.html, abgerufen am 28.5.2025

Quelle: arbeitsunrecht in deutschland