Soziale Ungerechtigkeit tötet

Ein junger Handwerker war die ganze Woche über in einem Neubau mit dem Posieren von Türen und Fenstern beschäftigt. Weil die Arbeiten unbedingt bis Freitag abgeschlossen werden mussten, ging es nicht ohne Überstunden. Und zwar täglich. Eine Schufterei, die schwer und ermüdend war. So richtig ausruhen konnte er sich allerdings auch am Wochenende nicht, da er angewiesen wurde, auch noch samstags – normalerweise ein freier Arbeitstag – anzutreten, da alles noch einer letzten Kontrolle unterzogen werden musste.

Den Mut, um gegen die ihm aufgedrängte Mehrarbeit zu protestieren, hat er jedoch nicht. Schließlich will er nicht riskieren, seinen Vorgesetzten zu sehr zu brüskieren und damit eventuell seinen Arbeitsplatz zu gefährden. Ähnlich wie die meisten seiner Kollegen, beschwert er sich nur selten. Auch dann nicht, wenn ihm am Monatsende nicht alle Überstunden als solche verrechnet werden. Was seit einigen Jahren immer häufiger der Fall war.

Doch ob es für die Mehrarbeit zum Monatsende nun mehr Lohn gibt oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass längere Arbeitszeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen die Gesundheit der Betroffenen gefährden.

Dies sieht auch die Weltgesundheitsorganisation so. hält sie doch in einem sehr interessanten Bericht fest, dass sichere und gut bezahlte Arbeiten eine positive Auswirkung auf die Gesundheit der arbeitenden Menschen hätten. Nicht minder interessant die Bemerkung, im Vergleich zu Arbeitern mit unbefristeten Verträgen (CDI) liege die Sterblichkeit bei Beschäftigten mit Zeitverträgen (CDD) deutlich höher, sowie die Behauptung, dass sozial Bedürftige in der Regel deutlich jünger sterben würden als Bessersituierte. Als Beispiel wird angegeben, dass in einem Armenviertel Glasgows die Lebenserwartung eines Neugeborenen um 28 Jahre niedriger sei als die eines Säuglings, der in einem Reichenviertel der schottischen Hauptstadt zur Welt kommt.

Auch andere Passagen im Bericht der WHO haben es in sich. So beispielsweise die Forderung, dass massive Investitionen in den Gesundheitssektor unumgänglich seien, oder Aussagen, dass die soziale Ungerechtigkeit töte, oder dass das Recht auf Wasser und Pflege nicht durch die Gesetze des Marktes geregelt werden dürfen, sondern durch den öffentlichen Sektor. Aussagen, die schon fast revolutionär klingen. Ob deshalb das über 250 Seiten dicke Dokument der breiten Öffentlichkeit bis heute vorenthalten wurde?

So als ob Schlussfolgerungen wie »le plein-emploi, l’équité en matière d’emploi et des conditions de travail décentes doivent être des objectifs communs des institutions internationales et se situer au coeur des politiques et des stratégies de développement nationales, les travailleurs devant être mieux représentés lors de l’élaboration des politiques, de la législation et des programmes portant sur l’emploi et le travail« nicht in die breite Öffentlichkeit gehören würden.

Wird etwa befürchtet, dass beim Lesen solcher Behauptungen der eine oder andere leicht auf dumme Gedanken kommen und dazu verleiten könnte, das kapitalistische Ausbeutersystem in Frage zu stellen.

gilbert simonelli

 

Aus: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek