Fest der Familie – aber nicht für syrische und irakische Flüchtlinge

PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen sind bestürzt über die dra­ma­ti­schen Schick­sa­le auf­grund des lahm­ge­leg­ten Fami­li­en­nach­zugs

Vor rund einem Jahr war die ver­zwei­fel­te Situa­ti­on syri­scher Fami­li­en das Top­the­ma von Son­die­rungs- und Koali­ti­ons­ge­sprä­chen. Ein Jahr spä­ter beklagt PRO ASYL-Geschäfts­füh­rer Gün­ter Burk­hardt eine »erbar­mungs­lo­se Gleich­gül­tig­keit. Deutsch­land fei­ert Weih­nach­ten als Fest der Fami­lie – die Ver­zweif­lung getrenn­ter Flücht­lings­fa­mi­li­en aus der syrisch-ira­ki­schen Kri­sen­re­gi­on ist völ­lig aus dem Blick gera­ten.«

PRO ASYL warnt vor einer dra­ma­ti­schen Fehl­ein­schät­zung der Situa­ti­on in Syri­en und Irak. Der IS ist noch immer mili­tä­risch stark und in der Lage Ter­ror zu ver­brei­ten. Der syri­sche Dik­ta­tor Assad ist für sei­ne Bru­ta­li­tät gegen­über Oppo­si­tio­nel­len und sol­chen, die er dafür hält, gefürch­tet. Die­se Regi­on wird nach dem Abzug der US-Trup­pen zu einem noch grö­ße­ren Pul­ver­fass, denn es ist völ­lig unab­seh­bar wie sich die Gemenge­la­ge wei­ter­ent­wi­ckelt. PRO ASYL und der nie­der­säch­si­sche Flücht­lings­rat hal­ten daher die anhal­ten­de Indif­fe­renz und Gefühl­lo­sig­keit ange­sichts der Not der Fami­li­en für unver­ant­wort­lich.

Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen kri­ti­sie­ren die ver­schlepp­te Bear­bei­tung von Vis­ums­an­trä­gen durch die Aus­lands­ver­tre­tun­gen sowie die Aus­län­der­be­hör­den: Nach Aus­kunft des Aus­wär­ti­gen Amts sind seit August 2018 bis Ende Novem­ber 2018 ins­ge­samt 1562 Visa an Ange­hö­ri­ge von sub­si­di­är geschütz­ten Flücht­lin­gen aus­ge­ge­ben wor­den. PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen for­dern die Bun­des­re­gie­rung auf, wenigs­tens die poli­tisch ver­ab­re­de­te Quo­te zu erfül­len und die rest­li­chen 3.438 Visa für das Jahr 2018 zu ertei­len. Über­dies muss bei allen Fäl­len, bei denen Min­der­jäh­ri­ge von den Eltern getrennt sind, unver­züg­lich der Nach­zug ermög­licht wer­den. Dies gebie­tet das Grund­ge­setz und die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on, zu der sich die Gro­Ko auch im Koali­ti­ons­ver­trag expli­zit bekannt hat. »Kin­des­wohl hat Vor­rang vor migra­ti­ons­po­li­ti­schem Kal­kül! Kin­der gehö­ren zu ihren Eltern und umge­kehrt!«, for­dert Burk­hardt.

Zum Hin­ter­grund:

Mit dem am 15. Juni 2018 beschlos­se­nen Gesetz­ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung über den Fami­li­en­nach­zug für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te hat die Bun­des­re­gie­rung das Recht auf Fami­li­en­le­ben für Ange­hö­ri­ge die­ser Schutz­be­rech­ti­gen kate­go­risch abge­schafft und durch ein Gna­den­recht ersetzt. Das Prü­fungs­ver­fah­ren für die Ver­ga­be der monat­lich bis zu 1.000 Visa erfolgt auf drei Ebe­nen und ist ein büro­kra­ti­sches Mons­ter.

In den ers­ten vier Mona­ten hät­ten über das einer Lot­te­rie glei­chen­de Ver­fah­ren zumin­dest 4000 Visa erteilt wer­den sol­len. Tat­säch­lich wur­den 4.927 Anträ­ge auf Ertei­lung eines Visums von den Aus­lands­ver­tre­tun­gen »posi­tiv geprüft« und an die Aus­län­der­be­hör­den in Deutsch­land über­sandt. Ledig­lich 2.031 Anträ­ge wur­den von den Aus­län­der­be­hör­den posi­tiv beschie­den und an das Bun­des­ver­wal­tungs­amt (BVA) wei­ter­ge­lei­tet. Das BVA hat fast alle Anträ­ge (2.026) aner­kannt und dies den Aus­lands­ver­tre­tun­gen über­mit­telt. Bis Ende Novem­ber wur­den 1562 Visa aus­ge­ge­ben.

August: 42 von 853
Sep­tem­ber: 147 von 914
Okto­ber: 499 von 1536
Novem­ber: 874 von 1624

Gesamt August bis Novem­ber 2018: 1.562 von 4.927

PRO ASYL und der nie­der­säch­si­sche Flücht­lings­rat machen in die­sem Zusam­men­hang auf einen dra­ma­ti­schen Ein­zel­fall auf­merk­sam, der im Rah­men des gemein­sa­men Fami­li­en­nach­zugs­pro­jekts von Karim Alwa­si­ti betreut wird.

A.K. ist im Jahr 2015 mit 13 Jah­ren aus Syri­en nach Deutsch­land geflüch­tet, weil er in einen Schuss­wech­sel zwi­schen der IS und Wider­ständ­lern gera­ten ist. Er wur­de ange­schos­sen, ist ver­letzt in einen Nach­bar­ort gekom­men und dann mit sei­nem Cou­sin von dort aus nach Deutsch­land geflo­hen. Heu­te ist er 16 Jah­re alt.
In Deutsch­land traf er sei­nen Bru­der R. wie­der, er ist 26 Jah­re alt und eben­falls seit 2015 in Deutsch­land. Er wur­de vom IS gefan­gen gehal­ten, gefol­tert, dann mit Auf­la­gen frei gelas­sen. Danach hat er Syri­en ver­las­sen. Inzwi­schen wohnt er mit sei­nem Bru­der A. K. in Nie­der­sach­sen. R. K. geht seit Novem­ber als Mau­rer arbei­ten. Inzwi­schen arbei­tet er in einer orts­an­säs­si­gen Fir­ma und hat auch die Chan­ce, dort eine Aus­bil­dung zu machen.
R. K. hat für sei­nen Bru­der die Vor­mund­schaft und Ver­sor­gung über­nom­men. Er ist bemüht, alles gut zu regeln, nur ist er nicht in der Lage, die Eltern zu erset­zen, was ihm und sei­nem Bru­der zu schaf­fen macht. R. K. ist dabei, sei­nen Füh­rer­schein zu machen. Der Arbeit­ge­ber ist sehr von sei­ner guten Arbeit und gewis­sen­haf­ten Hal­tung ange­tan. Aber die Betreu­ung sei­nes jün­ge­ren Bru­ders über­for­dert ihn offen­kun­dig:
A. K. geht mitt­ler­wei­le in die Berufs­bil­den­de Schu­le und kann ziem­lich gut Deutsch spre­chen. Die Leh­rer stell­ten aber fest, dass er ein­fach nicht belast­bar ist, sehr oft erschöpft wirkt, stot­tert und dem Unter­richt zeit­wei­se schwer fol­gen kann. Dar­auf­hin wur­de er zu Fach­leu­ten geschickt und bekam die Dia­gno­se, dass eine Post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung vor­lie­ge. Nun wird er von einem Logo­pä­den unter­stützt, 2-mal im Monat bekommt er eine Bera­tung bei einer Kin­der­psy­cho­lo­gin. Er wird zusätz­lich von einer Pri­vat­per­son in Deutsch unter­stützt. Er nimmt die­se Ange­bo­te alle sehr gewis­sen­haft wahr, aber es fällt ihm sehr schwer, weil er stän­dig migrä­ne­ähn­li­che Kopf­schmer­zen hat. Sei­ne Ver­fas­sung wird suk­zes­si­ve schlech­ter. Daher sind sei­ne Chan­cen in der Schu­le einen Abschluss zu machen gefähr­det. Auch die ange­streb­te tech­ni­sche Aus­bil­dung wird für ihn als Ziel immer schwie­ri­ger zu errei­chen sein.
Das Krank­heits­bild drückt sich auch aus in einem sozia­len Rück­zugs­ver­hal­ten: A. K. hat kei­ne nen­nens­wer­ten sozia­len Kon­tak­te oder Freun­de und bleibt meist zu Hau­se. Wegen sei­ner Schuss­wun­de kann er nicht am Sport­un­ter­richt teil­neh­men. Der Jun­ge schläft schlecht, nachts weint er viel. Er isst und trinkt wenig, weil er sich so schlecht dabei fühlt zu wis­sen, dass sei­ne Fami­lie in Syri­en hun­gern muss und er hier alles hat. Er braucht sei­ne Eltern, um aus einem sta­bi­len und ver­trau­ten Umfeld her­aus sei­ne Kriegs­trau­ma­ta ver­ar­bei­ten zu kön­nen.
Im Okto­ber 2016 wur­de A. K. – im Unter­schied zu sei­nem Bru­der R. K., der als Flücht­ling aner­kannt wur­de – nur sub­si­diä­rer Schutz zuer­kannt. Ein Kla­ge­ver­fah­ren für die Aner­ken­nung als Flücht­ling ist seit­dem anhän­gig. Auf­grund der von der Bun­des­re­gie­rung für zunächst zwei Jah­re ver­häng­ten Nach­zugs­sper­re für sub­si­di­är Geschütz­te war ein Fami­li­en­nach­zug zunächst recht­lich aus­ge­schlos­sen. Die Hoff­nung des Jun­gen, dass sei­ne Eltern und Geschwis­ter aus einem Not­la­ger in Nord­sy­ri­en nach Ablauf der Aus­set­zung am 17.03.2018 im Rah­men des Fami­li­en­nach­zugs ein­rei­sen könn­ten, zer­schlug sich mit der fak­ti­schen Abschaf­fung des Fami­li­en­nach­zugs­rechts und der gesetz­li­chen Neu­re­ge­lun­gen.
Am 25.01.2018 stell­te er einen Antrag auf Fami­li­en­nach­zug im Rah­men der Här­te­fall­reg­lung (Antrag in der Anla­ge). Eine Ant­wort liegt bis heu­te nicht vor.
Dar­über hin­aus haben die Eltern bereits am 02.08.2017 einen Antrag auf Vor­spra­che zur Bean­tra­gung des Fami­li­en­nach­zugs in Bei­rut gestellt. Wann sie einen Ter­min für die Antrag­stel­lung bekom­men, ist vor dem Hin­ter­grund der 22.000 dort gestell­ten Anträ­ge auf die Ter­min­ver­ga­be offen.
Die Fami­lie K. (Eltern und vier Geschwis­ter, die Jüngs­te fünf Jah­re alt) ist 2012 aus ihre Hei­mat Deir Al-Zor ver­trie­ben wor­den, als das Haus wie die gan­ze Stadt im Krieg zer­stört wur­de. Zur­zeit lebt die Fami­lie in einem Lager unter sehr schwie­ri­gen Bedin­gun­gen mit­tel­los vor der liba­ne­si­schen Gren­ze in einem Zelt­la­ger. Auf­grund der exis­ten­zi­el­len Not­la­ge der Fami­lie haben bei­de Brü­der bereits ange­deu­tet, dass sie es nicht mehr aus­hal­ten könn­ten hier zu sein. Wenn nicht end­lich etwas pas­sie­re bezüg­lich des Här­te­fall­an­tra­ges, der von sei­nem 16-jäh­ri­gen Bru­der A. K. gestellt wur­de, deu­tet R.K. an, dann wür­den sie nach Syri­en zurück gehen, um ihre Fami­lie in irgend­ei­ner Wei­se zu unter­stüt­zen.

Quelle:

Pro Asyl