Die Türkei zwischen zwei Machtblöcken und die Rolle der HDP

Analyse zu den Istanbulwahlen von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 25.06.2019

Die türkische Regierung hat bei den Neuwahlen der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul eine erneute Niederlage einstecken müssen. Laut dem noch inoffiziellen Endergebnis, das durch den Provinzwahlrat von Istanbul gestern veröffentlicht wurde, hat der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) Ekrem İmamoğlu gestern 4.741.868 Stimmen erhalten und ist damit als deutlicher Wahlsieger hervorgegangen. Der Kandidat der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Binali Yıldırım kam hingegen nur auf 3.935.453 Stimmen und musste sich mit mehr als 9% Rückstand gegenüber İmamoğlu geschlagen geben.

Bereits mit den Kommunalwahlen am 31. März 2019 hatte sich das seit Jahren festgefahrene Kräfteverhältnis, das die AKP-Regierung begünstigt hatte, in der Türkei und in Kurdistan verändert. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hatte entsprechend ihrer Wahltaktik, die sich mit den Worten „in Kurdistan gewinnen und im Westen verlieren lassen“ zusammenfassen lässt, während der Wahlen in den großen westlichen Metropolen als „unsichtbare Kraft“ gewirkt. Städte wie Ankara, Izmir, Adana, Mersin, Antalya oder Hatay gingen an das „Bündnis der Nation“ (türkisch Millet İttifakı), das vor allem von der CHP und der Guten Partei (İyi Parti) getragen wird. In dem die HDP in diesen Städten keinen eigenen Kandidaten aufstellte, wurde der Volksallianz (türkisch Cumhur İttifakı), dem regierende Wahlbündnis der AKP und rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ein schwerer Schlag versetzt. Überall, wo die AKP am 31. März gestürzt wurde, entspricht die Anzahl der Stimmen für die siegreichen BürgermeisterkandidatInnen der Anzahl der Stimmen, die die CHP-Iyi-Parteien und die HDP bei den Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 zusammen erreicht hatten. Somit hatte die Rolle der kurdischen WählerInnen eine Schlüsselbedeutung inne. Die 1.195.602 Stimmen der HDP, die sie bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr in Istanbul gesammelt hatte, haben sich bei der Oberbürgermeisterwahl am 23. Juli nun bei İmamoğlu  wieder gefunden. Entsprechend der taktischen Entscheidung stellte die HDP keinen eigenen Kandidaten in Istanbul auf, um die HDP-Stimmen gegen den AKP-Kandidaten einsetzen zu können.

Wie wurden die kurdischen Stimmen so entscheidend?

Das Bündnis aus AKP und MHP war sich der entscheidenden Bedeutung der kurdischen Stimmen bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul wie alle anderen Parteien bewusst.1  Es wurde regelrecht um die kurdischen Stimmen gebuhlt. Wenige Tage vor den Wahlen versuchte der türkische Präsident Erdoğan die HDP gegen Abdullah Öcalan auszuspielen2 und der AKP-Kandidat Yildirim verwendete bei einer Ansprache in Amed (Diyarbakir) den Begriff „Kurdistan“, um für die kurdischen Stimmen bei der Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl zu werben.

Diese strategische Bedeutung der kurdischen Stimmen ist auf die Gründung der HDP im Jahr 2012 zurückzuführen. Statt wie dahin mit unabhängigen KandidatInnen zu den Wahlen anzutreten, wurde die Entscheidung getroffen als Partei anzutreten. Abdullah Öcalan zählt hierbei zu den Architekten der Grundideen der HDP. Infolge dessen markierten die Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 einen Wendepunkt in der Geschichte der Türkei. Die politische Bewegung der KurdInnen hatte bei diesen Wahlen nämlich unter Beweis gestellt, dass sie unter gleichberechtigten Bedingungen problemlos die undemokratische 10%-Hürde des türkischen Wahlsystems nehmen kann. Die AKP verlor mit diesen Wahlen ihre absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Weil sie auch das nicht akzeptieren wollte, beendete die AKP zunächst die Verhandlungen mit den KurdInnen und setzte anschließend Neuwahlen an. Was darauf folgte, war eine Gewaltspirale, welche die Türkei so bislang nicht gekannt hatte. Die Massaker in Ankara und Suruç sind ebenso zwei Beispiele hierfür wie der ominöse Putschversuch vom 15. Juli 2016.

Der dritte Weg der HDP gegen die beiden Machtblöcke in der Türkei

In diesem Kontext ist es falsch, den am 21. Juni veröffentlichten Appell von Abdullah Öcalan, in dem er die HDP ermutigt den „dritten Weg“ zu stärken, auf die Istanbul-Wahl zu beschränken.3 Im Wesentlichen macht Öcalan damit auf die Gründungsphilosophie der HDP aufmerksam. Denn bei der Gründung der HDP kamen die demokratischen und linken Kreise in der Türkei mit der politischen Bewegung der KurdInnen zusammen, um als ein Demokratie-Bündnis einen neuen Pol in der türkischen Politik zu bilden. Ziel war und ist es, sich nicht auf der Seite eines der Machtblöcke in der türkischen Politik zu positionieren, sondern einen „dritten Weg“ auf der Grundlage von Demokratie, universellem Recht und freier Politik einzuschlagen. Die HDP stellt sich in diesem Sinne gegen den islamisch-konservativen-nationalistischen Block, der heute von dem Bündnis der AKP und MHP dargestellt wird, als auch gegen den laizistischen-nationalen Block, der durch die CHP repräsentiert wird. Bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 ist infolge der Taktik der HDP in den türkischen Metropolen „die AKP im Westen verlieren zu lassen“ ein taktisches und indirektes Bündnis mit der CHP entstanden, welches die Politik des dritten Weges der HDP etwas verwischt hat.

In diesem Sinne ist der Appell Öcalans an die HDP auf die Strategie des Dritten Weges zu beharren, keine Infragestellung der Wahltaktik der HDP, die AKP verlieren zu lassen und aus diesem Grund keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Es ist vielmehr ein weitsichtiger Apell, sich unabhängig von dem Wahlergebnis nicht in der kurzfristigen Alltagspolitik zu verlieren, sondern mit der Treue zur Gründungsphilosophie und dem Anspruch einen dritten Block aufzubauen, langfristige widerständige Politik zu machen. „Die HDP möchte die Spaltung der Türkei in zwei große Blöcke überwinden, die Verhärtung, die die Türkei spaltet. Denn nur so kann eine Versöhnung für die gesamte Gesellschaft gelingen. Für eine Demokratisierung der Türkei braucht es eine neue Verfassung und dafür brauchen wir eine Politik, die die ganze Gesellschaft mit einbezieht – nicht das alte Denken in Bündnissen und Gegenbündnissen. Das ist der Dritte Weg. Und diese Botschaft ist auch in Istanbul angekommen“, erklärt der HDP-Abgeordnete und Vizepräsident des türkischen Parlaments Mithat Sancar gegenüber der Welt.4

Rückkehr zur Demokratie?

Eines darf bei all der Euphorie über den Wahlsieg İmamoğlus in Istanbul nicht vergessen werden: Die in den westlichen Medien oft unkritisch als liberaler Gegenpol zur AKP gehandelte türkische Opposition trägt entscheidenden Anteil an der gegenwärtigen Polarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft und Politik. Auch der Wahlkampf in Istanbul bzw. die Dynamik der türkischen Politik wurde von der ausländischen Presse als ein Kampf zwischen Säkularismus und Islamismus beschrieben. Doch beide Pole sind im Grunde zwei Seiten einer Medaille. Auch wenn es progressive Kreise innerhalb der CHP sicherlich gibt, hat die Partei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten maßgeblich zum Demokratiedefizit in der Türkei und dem Misstrauen der KurdInnen in die herrschende Politik beigetragen. So verteidigte der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten und der ehemaligen HDP Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Die CHP unterstütze auch die völkerrechtswidrige Kriegspolitik der türkischen Regierung in Nordsyrien und Nordirak mit Beifall. Auch der Bündnispartner der CHP, die İyi-Partei ist kein Unschuldslamm. Sie ist eine Abspaltung der ultranationalistischen MHP und  ihre Vorsitzende, Meral Akşener, stellt sich nicht gegen die rechte und nationalistische Ideologie ihrer alten Partei. Im Gegenteil, sie postete am 4. April 2019 ein Foto von Alparslan Türkeş und zollte damit dem Gründer der faschistischen Grauen Wölfe an seinem 22. Todestag ihren Respekt. Auch der neue Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu zollte am selben Tag der rechtsextremen türkischen Führungsfigur seinen Respekt.5

In diesem Sinne ist es übertrieben, bei dem Sieg der „Opposition“ in Istanbul bereits von einer Rückkehr zur Demokratie zu sprechen. Auch wenn der Verlust der Metropole Istanbul einen schweren Schlag gegen Erdogans AKP darstellt, sollte man nicht vergessen, dass von einem demokratisch, fairen Wahlkampf nicht die Rede sein kann. Immer noch befinden sich tausende politische AktivistInnen und ehemals gewählte BürgermeisterInnen und PolitikerInnen der HDP in türkischen Gefängnissen. Auch die Interventionen der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Nordsyrien und Nordirak dauern weiter unvermindert an und fordern tagtäglich zivile Opfer.

Die Lösung der kurdischen Frage als Schlüssel zur Demokratisierung der Türkei

Wie eine Demokratisierung der Türkei aussehen kann, beschrieb Abdallah Öcalan bereits im vor zehn Jahren in seinem Werk „Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage“.6 Nach zehn Jahren steht die Türkei immer noch am selben Fleck und der Bedarf einer Roadmap, um aus der Polarisierung und der Gewaltspirale herauszukommen, ist weiterhin brandaktuell. Doch für die Umsetzung bedarf es Mut, Ersthaftigkeit, Verantwortung und Ansprechpartner. Immer noch sucht Öcalan nach einen Gesprächspartner, um die kurdische Frage zu lösen, wie er es im Jahr 1993 bereits formulierte. Ob die CHP und İmamoğlu  eines Tages dieser Verantwortung gerecht werden, ist ungewiss. Doch die Türkei muss den Schritt über diese Brücke wagen, um zu einem demokratischen, pluralistischen und freiheitlichen Land zu werden. Wenn nicht heute, dann Morgen.

  1. https://anfdeutsch.com/aktuelles/istanbuler-buergermeisterkandidaten-buhlen-um-kurdische-stimmen-11952 []
  2. https://anfdeutsch.com/aktuelles/demirtas-weist-machtkampf-zurueck-12186 []
  3. https://anfdeutsch.com/hintergrund/neue-botschaft-von-abdullah-Oecalan-12155 []
  4. https://www.welt.de/politik/ausland/article195773771/Buergermeisterwahl-Die-Kurden-waren-entscheidend-fuer-den-Sieg-in-Istanbul.html []
  5. https://twitter.com/ekrem_imamoglu/status/1113696628182065152?lang=de []
  6. http://civaka-azad.org/roadmap-fuer-die-demokratisierung-der-tuerkei-und-dieloesung-der-kurdischen-frage-2/ []

Quelle:

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.