Bis zum letzten Atemzug

Japan kündigte rezent an, das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anzuheben. Als Grund werden die steigende Lebenserwartung und die damit einhergehenden ebenfalls steigenden Sozialkosten angegeben. Dies dürfte auch in der EU auf offene Ohren stoßen, erzählt man uns auch hier seit Jahrzehnten, das entscheidende Kriterium sei die gestiegene Alterserwartung, während die gestiegene Produktivität und die Lohnstückkosten ausgeblendet werden. Auch an der Wochenarbeitszeit soll wieder geschraubt werden.

Australische Forscher haben indes herausgefunden, daß mehr als 25 Stunden Erwerbsarbeit pro Woche an die Substanz gehen können. Zumindest bei Beschäftigten ab 40 Jahren habe man deutlich eine Leistungsgrenze bei dieser Stundenanzahl festgestellt, hieß es. Mit jeder weiteren Arbeitsstunde seien die kognitiven Fähigkeiten deutlich gesunken.

Wissenschaftler aus Skandinavien stoßen ins selbe Horn. Dies deute, so die Forscher, darauf hin, daß eine Form der Teilzeitarbeit besser mit den menschlichen Bedürfnissen vereinbar sei. Gemeint sind hier nicht die für Lohnabhängige unvorteilhaften gängigen Formen von Teilzeit, sondern eine ganz andere Struktur der Wochenarbeitszeit. Im schwedischen Göteborg durfte eine Autowerkstatt 12 statt 8 Stunden öffnen, wenn sie gleichzeitig den Angestellten einen 6-Stundentag bei vollem Lohnausgleich zugestand. Die Beschäftigen arbeiteten in 2 Schichten und waren produktiver, gesünder und zufriedener.

Interessant ist die australische Studie nicht nur im Zusammenhang mit der Diskussion um neue Ausweitungen der Wochenarbeitszeiten, sondern auch bei der »digitalen Revolution«. Von der Wirtschaft gefeiert, soll diese »Revolution« dafür sorgen, daß es künftig flexiblere Arbeitsbedingungen geben wird. Man weiß, wenn die Industrie in solchen Tönen flötet, ist Vorsicht geboten, zumal keine der bisherigen industriellen Revolutionen ohne soziale Kämpfe irgendeinen Nutzen für die Berufstätigen mit sich gebracht hat.

Die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung bringt Flexibilisierung und Produktivitätssteigerung zugunsten der Wirtschaft, während die Menschen unter Arbeitsverdichtung und zunehmender Prekarisierung leiden. Es ist wie immer: Alle Vorteile aus dieser Produktivitätssteigerung äußern sich allein zum Vorteil einer Minorität, während die Mehrheit zum kargen Lohn auch noch die Kosten trägt.

Um den technischen Fortschritt aus Sicht der Lohnabhängigen zumindest teilweise in erträgliche Bahnen zu leiten, müßten dringend gesetzliche Grundlagen geschaffen werden, die soziale Mindeststandards garantieren, wie Mitbestimmung bei der Technologisierung im Betrieb, bei der Neuausrichtung der Arbeitszeiten und beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Eine ständige Erreichbarkeit ist ebenfalls nicht immer erwünscht.

Das Hauptproblem wird vermutlich die völlige Deregulierung der Arbeitszeiten sein. Bei einer Neudefinierung von Arbeits- und Lebenszeit muß deshalb mit Vorsicht vorgegangen werden. Erste Flexibilisierungsmodelle sind in der Vergangenheit bekanntermaßen zum ausschließlichen Vorteil der Wirtschaft ausgefallen.

»Arbeit neu denken« hört man als Slogan immer häufiger. Es sollte deutlich werden, daß Arbeitszeit ein Teil Lebenszeit ist, die nicht frei bestimmt werden kann und entsprechend honoriert werden muß. Prominentestes Beispiel ist hier sicher der Einzelhandel. Gerade in Zeiten, wo neue Technologien der seit dem letzten Weltkrieg ohnehin massiv gestiegenen Produktivität neuen Schub geben, ist ein Prekariat nicht mehr akzeptabel, und eine 40-Stundenwoche schon gar nicht.

Christoph Kühnemund

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek