Brief des Aktionsnetzwerkes „Leipzig nimmt Platz“ an Chefredakteur der LVZ

Betreff: Berichterstattung Femizid an Myriam Z.

Sehr geehrter Herr Emendörfer,

wir – das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ – gehen hiermit gerne Ihrer Bitte nach und möchten Ihnen unsere Ansicht zur Berichterstattung über den Femizid an Myriam Z. mitteilen.

Für die gängigen Leser*innen der LVZ mag der Beitrag von Bettina Wilpert eine neuartige Perspektive geschafft haben, da Wilperts Ton dem Grundtenor Ihrer Tageszeitung nicht entspricht. Wir finden es großartig, dass Sie dennoch mit der Veröffentlichung von Wilperts Essay einen Versuch gewagt haben, einer äußerst qualifizierten, mehrfach renommierten und anerkannten Journalistin Stimme zu verleihen. Leider diffamieren Sie Wilpert und ihre Kompetenz in Ihrer Correctio an die Leser*innenschaft am 01.07.2020 und revidieren mit Aussagen wie „Wir tolerieren die Sicht der Autorin, was jedoch nicht heißt, dass wir die Sache in allen Teilen so sehen wie sie“.

Mit dem Attribut ‚jung‘ implizieren Sie Inkompetenz und unterstellen der Schriftstellerin zudem, nicht „sachlich, objektiv und distanziert“ berichtet zu haben gemäß Ihrem Anspruch an die tägliche Berichterstattung, wie Sie es im letzten Abschnitt deutlich machen. Absurderweise ist eine solche Dreistigkeit nicht „sachlich, objektiv und distanziert“ sondern höchst hierarchisierend. Nicht nur der Umgang mit Bettina Wilpert ist zu kritisieren, vor allem, und das ist auch der Anlass für unseren Kommentar, Ihr dilettantischer Umgang mit struktureller Ungleichheit und historisch angelegten Machtverhältnissen im Patriarchat.

Zu einer verantwortungsvollen Berichterstattung gehört es auch, die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Wenn Frauen*, trans*, inter-, nicht-binäre Personen und Queers wegen ihrer zugeschriebenen Andersartigkeit von Männern mit patriarchalen Privilegien ermordet werden, dann heißt das Femizid. Dass diese Gewalt kein Einzelfall wie bei Myriam Z. ist, beweisen fundierte Statistiken (nachzulesen hier: http://www.onebillionrising.de/femizid-opfer-meldungen-2019/). Daraus geht hervor, dass rein rechnerisch alle 72 Stunden ein Femizid in Deutschland begangen wird, wohlgemerkt ohne Einbezug der Dunkelziffer. In ihrer Correctio betonen Sie erneut die Motive der Männer, Ihrer Meinung nach geschehen diese „dutzende(n) Frauenmorde, weil Frauen nicht die ihnen von Männern zugedachte Rolle erfüllen wollen“. Mit solchen Aussagen reproduzieren Sie kulturelle Deutungsmuster von Frauen*diskriminierungen und verfestigen somit den strukturellen Sexismus in unserer Gesellschaft. Wir möchten Ihnen nicht unterstellen, unzureichend recherchiert zu haben, aber schauen Sie sich gerne die Definition des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen an: »Der Begriff „Femizid“ (femicidio) wurde insbesondere in Lateinamerika als hilfreiches Instrument begrüßt, um auf die alarmierende Eskalation äußerst brutaler Morde an Frauen und Mädchen reagieren zu können. Parallel dazu wurde das Wort „feminicidio“ (Feminizid) eingeführt, um das Element der Straflosigkeit und institutionellen Gewalt angesichts der mangelnden Rechenschaftspflicht und adäquaten Antwort des Staates auf dieses Phänomen zu erfassen.« (Auszug, https://eige.europa.eu/de/taxonomy/term/1128). Aus dieser Definition kann abgeleitet werden, dass die Motive von Femizidtätern nicht Gründe vorweisen, sondern vielmehr Struktur haben: die Morde entstehen nicht aus einem tieferen Hergang heraus, sondern sind Outputs der strukturellen Diskriminierung von Frauen*, die nach sozial geteilten und impliziten Geschlechtervorurteilen als minderwertig angesehen werden. Ihre Leugnung bzw. Ablehnung dieses Faktums nennt sich ‚moderner Sexismus‘ und baut zunehmend die sozialen Ungleichheiten und elitäre männliche Werte auf!

Mit der These “Medien sind keine Gerichte“ nehmen Sie sich selbst in Schutz und verleugnen Ihren Einfluss auf Diskurse und die Meinungsentwicklung vieler Ihrer Leser*innen. Als LVZ tragen Sie in jedem Ihrer Artikel immer die Verantwortung von Meinungsmacher*innen und Fokuslenker*innen. Sie weisen bereits bei der Auswahl der Themen, die Einzug in die Zeitung finden, und ebenso bei der Auswahl der Autor*innen, die diese Themen vorstellen bzw. von ihnen berichten, eine Richtung. Ein Bericht besitzt zwar den Anspruch auf Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit, doch sollte er vielmehr als eine von vielen möglichen Darstellungen eines Geschehens verstanden werden. Erst durch eine hohe Anzahl an Berichten von einem Geschehen, also durch die Vielfältigkeit der Berichterstattung, ergibt sich ein differenzierbares Bild von dem, was wohl geschah. Daher befürworten wir es sehr, dass Sie Autor*innen wie Bettina Wilpert einbeziehen, um eine Vielfältigkeit herzustellen.
Beim nächsten Mal, wenn es Kritik an Ihrer Auswahl der Autor*innen hagelt, sollten Sie vernünftig und ehrlich zu Ihrer Entscheidung stehen, Artikel unkommentiert lassen und erst recht nicht überholte kulturelle Deutungsmuster reproduzieren und sich somit für die Tradierung von Sexismen verantwortlich machen!

Sehr geehrter Herr Jan Emendörfer, tun Sie uns den Gefallen und bleiben Sie das nächste Mal einfach „sachlich, objektiv und distanziert“.

Mit freundlichen Grüßen
Das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“

Quelle:

Aktionsnetzwerk “Leipzig nimmt Platz”