Corona als Anlaß für Verschlechterungen

Viel wird diskutiert und gefordert, um die Wirtschaft nach der Pandemie wieder auf die Beine zu stellen. Eine andere gesellschaftliche Ausrichtung sei möglich, heißt es vielerorts. Gleichzeitig fordern die Anhänger des Sozialdarwinismus, wie etwa die deutsche FDP, weitreichende Entgrenzungen, etwa bei den Öffnungszeiten des Einzelhandels oder bei der maximal zulässigen Wochenarbeitszeit.

Derlei Ideen treffen auch hierzulande keineswegs auf taube Ohren. Die Gewerkschaften und die Beschäftigten sollten auf der Hut sein, um zu verhindern, daß es wieder einmal die arbeitenden Massen sind, die eine Krise finanziell stemmen müssen, während viele Unternehmen sogar Profit aus ihr schlagen. Im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde im Zuge der neuen Corona-Verordnung auch festgehalten, Sonntagsöffnungen im Handel zuzulassen, wobei der zuständige Minister bei der Verkündung dieser Maßnahme vor 2 Wochen vor laufenden Kameras den Gewerkschaften sinngemäß erklärte, es sei jetzt nicht die Zeit für Aufmüpfigkeit.

Zwar sollte die allgemeine Forderung nach Arbeitsplätzen, die genug abwerfen, um damit ein ordentliches Leben führen zu können, aufrechterhalten werden. Gleichzeitig jedoch muß die Lohnarbeit als allein sinnstiftende Lebenstätigkeit vom Podest genommen und nachhaltigere Beschäftigungsmodelle endlich in Betracht gezogen werden. Schauen wir in die Gesichter der Menschen, die zu ihren Arbeitsplätzen hasten oder anschließend heim, sehen wir oft traurige Mienen. Glücklich der, welcher in seiner Arbeit aufgeht. Auf die Mehrheit trifft dies kaum zu, schon gar nicht in diesen Zeiten, wo das Ungleichgewicht zwischen abhängiger Arbeit und frei nutzbarer Lebenszeit nicht erst seit dem Virus zu kippen droht. Mit verheerenden Folgen für die Gesundheitssysteme und die Gesellschaft. Denken wir über das bestehende System nach, klingt es fast schon surreal, während eines Lebens, das sich so vielseitig gestalten läßt, an den meisten Tagen immer und immer wieder dieselbe Tätigkeit auszuführen, um Geldmittel zu erhalten, um sich und seine Familie im System am Laufen zu halten.

Dazu kommt, daß lange Arbeitszeiten gesundheitliche und geistige Schäden anrichten, deren Behandlung von der Allgemeinheit getragen werden muß, während die durch Mehrarbeit entstandenen Extra-Profite zum größten Teil in die Taschen der Unternehmer wandern. In der Hoffnung, daß sie weitere solcher Arbeitsplätze schaffen, erlässt man ihnen dann auch immer weiter die soziale Mitverantwortung. Für den Einzelnen bleibt, so sehr er auch strampelt, am Ende immer dasselbe übrig.

Der technische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hat die Produktivität enorm gesteigert, jedoch für die Massen nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer Arbeitsverdichtung geführt. Im Gegenteil wird stetig Lohnmoderation gefordert. Aber ist Arbeiten um jeden Preis noch zeitgemäß? Weder herrschende Politik, noch Wirtschaft sind dazu bereit, an solche Diskussionen zu denken.

Dabei haben Modellansätze von reduzierten Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich in manchen Ländern gute Ergebnisse erzielt. Gesundheit und Motivation der Beschäftigten entwickelten sich positiv. Zeit für das eigene Leben wird freigemacht. Vereine und soziales Engagement profitieren davon.

Soziale Fortschritte fallen nicht vom Himmel. Neben gewerkschaftlichem Druck müssen auch politisch Weichen gestellt werden. Erst dann können längst überfällige Wochen- und Lebensarbeitszeitverkürzungen wieder auf die Agenda.

Christoph Kühnemund

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek