Keine Gerechtigkeit für Adil

Am 18. Juni wurde der Arbeiter und Gewerkschafter Adil Belakhdim von einem LKW-Fahrer vorsätzlich überfahren, der daraufhin einfach weiterfuhr. Die Nachricht seines Todes hat nicht nur Gewerkschaftsaktivistinnen und ‑aktivisten sowie das linke und kommunistische Spektrum schockiert, Italien konnte darüber landesweit in Zeitungen lesen und im Telegiornale hören.

Inzwischen hat sich der Mörder selbst gestellt, sein Name lautet Alessio Spaziano. Er ist zwischen 24 und 26 Jahre alt (den Medien sind unterschiedliche Altersangaben zu entnehmen) und wohnt in der Nähe von Caserta zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern im Kleinkindalter. Er arbeitet nicht für Lidl, sondern liefert nur täglich die Tiefkühlprodukte dorthin.

So auch am 18. Juni. Er wollte wie immer vom Lidl rausfahren und seinen normalen Arbeitstag durchführen. Das ging aber nicht, weil sich SI-Cobas mit ihrer Protestaktion genau in seine Route gestellt hatten. Seiner Aussage nach fuhr er dann Richtung Autobahn, hatte aber doch das starke Gefühl, er könnte dabei etwas gestreift haben. Bei der Ausfahrt Novara-West rief er dann seinen Taufpaten an, der einen Rang bei der Polizei in Caserta innehat. Dieser habe ihm wärmstens empfohlen, sich so schnell als möglich zu stellen, weil es andernfalls zu schlimmeren Konsequenzen führen würde. Er rief bei den Carabinieri in Novara an, um festzustellen, dass es sein könnte, dass er jemanden beim Rausfahren erwischt hätte.

Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet, die Staatsanwaltschaft Novara muss zwei Aspekte des Falles eingehend prüfen, einerseits inwieweit sich der Fahrer des Risikos des Manövers bewusst war und andererseits die Gründe für das Verlassen des Unfallortes. Zeugenaussagen gibt es ja genug.

Mord- oder Unfallopfer?

Es fällt einerseits aus der bürgerlichen Berichterstattung, andererseits aus den benutzten Termini im Rechtsjargon auf, dass sich die Anklage von vorsätzlichem Mord auf fahrlässige Tötung in einem tragischen Verkehrsunfall mit darauffolgender Fahrerflucht verschoben hat. Der Fall wurde zwar rekonstruiert – Spaziano wollte rausfahren, konnte aber nicht und ist deshalb zwei Mal aus dem LKW ausgestiegen, um sich bei den Gewerkschaftern darüber aufzuregen, die aber natürlich ihre Protestaktion nicht abbliesen. Daraufhin stieg er wieder ein und überfuhr drei Menschen, von denen einer, Adil Belakhdim, tot liegenblieb und Spaziano beging daraufhin noch Fahrerflucht. Man würde doch meinen, dass eine Person, die sich vorsätzlich in einen Wagen setzt und Menschen, die ihm auf die Nerven gehen, einfach willkürlich und in vollem Bewusstsein seiner Tat überfährt, als Mörder gewertet werden muss. Die drei Menschen, die er überfuhr, stellten sich ihm nicht plötzlich in den Weg, sondern standen bereits seit Stunden da. Doch Alessio Spaziano sitzt jetzt bei sich zuhause in Hausarrest. Da er über ein öffentlich sichtbares Facebook-Profil verfügt, das von der berechtigt erzürnten Öffentlichkeit gerade genutzt wird, um einerseits ihrem Unmut über den feigen Mord Luft zu machen, andererseits um Solidaritätsbotschaften und Beileidsbekundungen für Adils Familie auszusprechen, wird sich Spaziano und (notgedrungen) seine Familie mit dem Problem einer anderen, wahrheitsgetreuen Sichtweise der Dinge auseinandersetzen müssen.

Si-Cobas ist über den verfügten Hausarrest mehr als wütend: „Wir haben nicht die Absicht, auf die Begründetheit der Vielzahl von Unwahrheiten und Verleumdungen einzugehen, die in der Verteidigung von Spaziano in Bezug auf die Dynamik der Tatsachen vom Freitagmorgen vor dem Lidl-Lager in Biandrate enthalten sind: unsere Anwälte werden sich darum kümmern.

Nun ist nicht auszuschließen, dass Spaziano in wenigen Wochen auf freien Fuß gesetzt wird, frei, um andere Arbeiter zu töten und vor allem legitimiert als Vorbild für andere exaltierte Streikbrecher, die von den Bossen dazu gedrängt werden, dasselbe zu tun und sich ermächtigt fühlen, die streikenden Arbeiter mit ihren Lastwagen zu erdrücken… Die Strafen sind ohnehin minimal, und das Spiel ist es wert!!!“

Si-Cobas ordnen das in das Gesamtspektrum bürgerlicher Rechtssprechung ein: Einen ähnlichen Fall gab es bereits 2016, als ein 53-jähriger Arbeiter ägyptischen Ursprungs namens Abd El Salaam von einem LKW-Fahrer vor den Betriebstoren in Piacenza umgebracht wurde und der Fahrer daraufhin freigesprochen wurde, oder aber die unzähligen Opfer der ILVA in Tarent und der Thyssen-Krupp in Turin von 2007, die noch auf eine gerechte Rechtssprechung warten. Auf die bürgerliche Rechtssprechung ist kein Verlass, gerade wenn es um Arbeiterinnen- und Arbeiterleben geht, gerade wenn es um migrantische Arbeitskräfte geht, gerade wenn sie sich zu streiken entschließen und irgendein Streikbrecher lässt sich immer finden, der die Drecksarbeit des Kapitals ausführt.

Si-Cobas schreiben abschließend: „Wie sich herausstellte sind Gewinne mehr wert als Menschenleben! Für uns bekommt das Wort Gerechtigkeit erst dann eine wirkliche Bedeutung, wenn es der Klassenmobilisierung gelingt, die Arbeiter von jener modernen Lohnsklaverei zu befreien, gegen die Adil gekämpft und sein Leben geopfert hat!“

Nach der riesigen Demonstration in Rom, auf der auch die Kommunistische Jugendfront (FGC) Stärke und Präsenz gezeigt hat, ist nun für Donnerstag ein weiterer landesweiter vierstündiger Streik der Logistik von Si-Cobas ausgerufen worden, um auf die vielen Opfer auf dem Arbeitsplatz und in Streikkämpfen aufmerksam zu machen.

Quelle: La Stampa/Torino Repubblica/Si Cobas

Quelle: Zeitung der Arbeit – Keine Gerechtigkeit für Adil