Alte Forderung, neue Begründung

Wenn Rentenkürzungen durchgesetzt werden sollen, ist hierfür keine Begründung zu dreist. Im April 2021 musste noch – neben dem altbekannten wie falschen Argument des demographischen Wandels – die Pandemie als Grund für die Forderung nach einer Anhebung des Renteneintrittsalters herhalten. In der vergangenen Woche wurde von Ökonomen aus dem neoliberalen Lager nun die Inflation als vermeintlicher Sachzwang ins Spiel gebracht, die Rente ab 70 einzuführen. Der Leipziger Wirtschaftswissenschaftler Gunther Schnabl hatte gegenüber „Bild“ gefordert: „Das Renteneintrittsalter muss steigen.“ Deutschland habe schon heute ein riesiges Fachkräfteproblem, hunderttausende Stellen seien unbesetzt. Das würde dazu führen, dass unter anderem die Löhne in den nächsten Jahren kräftig steigen müssten und damit Waren noch viel teurer würden.

Der Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Stefan Kooths, sekundierte: „Der Mix aus alternder Gesellschaft, hoher Verschuldung und Energiewende wird in den nächsten Jahren zu einer steigenden Gefahr für die Preisstabilität.“ Immer mehr Rentnern stünden immer weniger Beschäftigte gegenüber. Dies könne zu weiter steigenden Preisen führen.

Wenn das Thema Rente auf der Tagesordnung steht, darf Bernd Raffelhüschen nicht fehlen. Der Freiburger Ökonom hatte sich bereits in den 2000er Jahren bei der Propagierung der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre einen Namen gemacht. Heute behauptet Raffelhüschen, dass die Rentenpolitik der vergangenen Jahre – wie etwa die Einführung der Rente mit 63 – mit immer neuen Schulden finanziert worden sei und plädiert dafür, den Renteneintritt an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. Dass Raffelhüschen neben seinem Lehrstuhl auch im Aufsichtsrat beim Versicherungskonzern Ergo sitzt, der unter anderem private Rentenversicherungen im Portfolio hat, ist sicher reiner Zufall.

Die These, dass die Anhebung des Rentenalters ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Inflation und des Fachkräftemangels sei, fußt jedenfalls weniger auf seriöser Wissenschaft als auf neoliberaler Ideologie. Der DGB hat zu Recht diese Vorstellungen aus der Giftküche des Hauses „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ scharf kritisiert. Dies sei keine Inflationsbekämpfung, sondern lediglich eine weitere Leistungskürzung auf dem Rücken der Beschäftigten. Dass ein höheres Renteneintrittsalter in der Konsequenz mehr Arbeitslose bedeutet, wird von den genannten Ökonomen ebenso verschwiegen wie der Fakt, dass schon bei den aktuell geltenden Regelungen jeder Siebte früher aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Die Gründe hierfür sind Krankheit, das Fehlen altersgerechter Arbeitsplätze und krankmachende Arbeitsbedingungen. Hinzu kommt die verbreitete betriebliche Praxis, dass sich Unternehmer trotz des vielbeschworenen Fachkräftemangels immer noch gerne ihrer älteren Beschäftigten entledigen.

Auch die Behauptung, aufgrund einer höheren Lebenserwartung müsse auch länger gearbeitet werden, ist weder besonders originell noch neu. Bereits 2019 führte der BDA dies als zentrales Argument für den geplanten Rentenklau an. Diese Argumentation war damals so falsch wie heute. Nicht die Demographie, also das Verhältnis zwischen Einzahlern und Rentnern, sondern die Produktivität einer Volkswirtschaft ist der entscheidende Faktor für das Rentenniveau. Um dies nachzuvollziehen, braucht es kein Ökonomiestudium, es genügt der gesunde Menschenverstand. Denn wenn die Größe des Kuchens schneller wächst als die Anzahl der Esser, werden auch die Kuchenstücke für alle größer.

Man kann die aktuelle Debatte auf die einfache Formel bringen: Wer in der Rentenpolitik von Demographie spricht, meint eigentlich Sozialabbau. Die Alternative hierzu ist, die gesetzliche Rente durch gute Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu stärken. Hierzu muss der Niedriglohnsektor ausgetrocknet, müssen sachgrundlose Befristungen abgeschafft und Mitbestimmung und Tarifbindung gestärkt werden. Von Kapital und Regierung wird seit Jahren das genaue Gegenteil praktiziert.

Quelle: Unsere Zeit