Debatte um die Laufzeitverlängerung: Atomenergie ist eine Hochrisikotechnologie

Die Ärzteorganisation IPPNW kritisiert die aktuelle Debatte um die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in  Deutschland scharf und spricht sich gegen einen Weiterbetrieb aus. Seit dem „Atomausstieg“ im Jahr 2011 mit der  Begründung der unberechenbaren Sicherheitsrisiken im AKW-Betrieb ist das Sicherheitsrisiko der Atomkraftwerke nicht kleiner, sondern größer geworden. Die drei am Netz verbliebenen Atomkraftwerke haben ihre Betriebsdauer von 30 Jahren überschritten. Zudem erlaubten die Atomaufsichtsbehörden den Betreibern Abstriche auf Sicherheitsüberprüfungen, Nachrüstungen und Reparaturen.
In den Reaktoren der AKW Neckarwestheim und Lingen wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Risse in den Dampferzeugern entdeckt. Ursache ist eine Spannungsrisskorrosion in den Dampferzeugerrohren, die im ungünstigen Fall einen Supergau auslösen kann. Im AKW Neckarwestheim sind bereits mehr als 300 Risse bekannt. Lokale Atomkraftgegner*innen haben zusammen mit der Antiatominitiative „ausgestrahlt“ Klage gegen den Weiterbetrieb erhoben.
„Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie. Innerhalb von 32 Jahren gab es drei große Atomkatastrophen: Three Mile Island (USA), Tschernobyl (Ukraine) und Fukushima (Japan). Das heißt im Durchschnitt eine große Katastrophe alle 10 bis 11 Jahre“, erklärt die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen.
Das deutsche Atomgesetz fordert für alle in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke alle 10 Jahre eine periodische Sicherheitsüberprüfung nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik. Für Isar 2 hat die letzte Überprüfung 2009 stattgefunden. Bereits 2019 hätte die nächste Überprüfung stattfinden müssen, wurde aber im Hinblick auf die  geplante Abschaltung 2022 ausgesetzt. Für eine Neugenehmigung bestehen seit 2014 europaweit höhere Sicherheitsanforderungen. Ein sog. Streckbetrieb wäre nur unter Inkaufnahme von erheblichen Sicherheitsrisiken möglich.
Nach geltendem Atomrecht müssen die Atomkraftwerke Isar 2, Lingen und Neckarwestheim Ende des Jahres vom Netz gehen. Noch  im März 2022 hatten das Bundesumweltministerium und das  Bundeswirtschaftsministerium die Möglichkeiten einer  Laufzeitverlängerung geprüft und kamen zur Einschätzung, dass mit dieser  Maßnahme weder die Gasmangellage gelöst werden könne, noch dass dies  angesichts der wirtschaftlichen, verfassungsrechtlichen und  sicherheitstechnischen Risiken vertretbar sei. Der Präsident für die  Sicherheit der nuklearen Entsorgung Wolfram König befürchtet, dass ein  weiterer Aspekt der Überprüfung eine komplette Umkehr des  Atomausstiegsbeschlusses bedeuten könne.
Selbst eine kurze  Laufzeitverlängerung hat massive haftungsrechtliche Konsequenzen: Da der  Betrieb von Atomkraftwerken ab Jahreswechsel verboten ist, wäre eine  Gesetzesänderung nötig. Bisher wurden von den AKW-Betreibern das  Haftungsrisiko für mögliche Unfälle übernommen. Dagegen ist der Nutzen  aus einer kurzfristigen Verlängerung der Laufzeiten äußerst gering, denn  der Anteil an der Stromversorgung beträgt in Deutschland zurzeit nur  ca. 6 Prozent. Zur Lösung des Gasmangels kann das nicht beitragen.
Grund  für den jetzt neu angesetzten Stresstest durch das Wirtschaftsministerium scheint die Tatsache zu sein, dass die Hälfte der französischen Atomkraftwerke seit ca. 6 Monaten vom Netz genommen  werden mussten, wegen sicherheitstechnischer Gefahren durch  Korrosionsprozesse in den Kraftwerken und fehlendem Kühlwasser als Folge  der
Klimakatastrophe. Deutschland stabilisiert das französische Versorgungsnetz durch kräftige Stromexporte. Neben Exporten aus Erneuerbaren Energien flossen allein im Juni 2022 1,7 Milliarden Kilowattstunden Strom aus deutschen Gaskraftwerken nach Frankreich, um den Atomstromausfall der französischen AKW’s zu kompensieren.
Das  Beispiel der französischen Atomindustrie zeigt das ganze Dilemma der  Atomkraftdebatte. Die fortgesetzte Nutzung von Atomkraft blockiert die  dringend notwendige Energiewende, in Frankreich, Deutschland und ganz  Europa. Atomkraft ist träge, sie kann nicht kurzfristig zurückgefahren  werden, wenn Erneuerbare Energien gerade im Überfluss zur Verfügung  stehen. Kaum ein Land hat so große Probleme, ausreichend eigenen Strom  zu produzieren, wie Frankreich. Um der Gasmangellage in Deutschland zu  begegnen, muss jetzt Gas eingespart werden, seitens der Wirtschaft  und der Verbraucher*innen. Die Energiewende muss beschleunigt werden  durch Investitionen in Energieeffizienz und Erneuerbare Energien. Das  gilt für ganz Europa.
Quelle: IPPNW