Was der Hesse sagt

Die Buchmesse zu Frankfurt am Main verzeichnete zu ihrer 74. Ausgabe diesen Oktober mit 180.000 Besucherinnen und Besuchern einen Rückgang des Zuspruchs von über 120.000 Gästen im Vergleich zum letzten vorpandemischen Jahr 2019. „Inmitten einer bedrückenden weltpolitischen Lage sendete diese Messe wichtige Signale: Das persönliche Gespräch ist in Zeiten aufgeheizter Debatten ein Gegenmittel zu Polarisierung“, sagte Messedirektor Juergen Boos am abschließenden Sonntag der „Hessenschau“. Signale waren auch an ihn adressiert: Die Zulassung dreier rechter Stände, etwa von der Wochenzeitung „Junge Freiheit“, führte zu Kritik. Die Frankfurter Stadtverordnete Mirriane Mahn (Die Grünen) forderte im Vorfeld der Messe Boos‘ Rücktritt, Mahns Parteikollegin Luisa Neubauer äußerte am Messefreitag, sie sei aufgrund der Anwesenheit von Rechten an Ort und Stelle „nicht sicher“.

Phrasengedresche und Symbolpolitik – das ist schließlich Sinn und Zweck des Business-2-Business-Events der Buchbranche, wo im Akkord Verlegerin und Agent einander treffen, um sich Manuskripte feilzubieten, und wo der professionelle Literaturmensch die neuesten Lesetrends ausspäht. Ökonomischer Trend des Marktsegments: Abwärts. „Die Preise für den Druck eines Buches haben sich verdoppelt“, sagte der selbstständige Wiesbadener Verleger Lothar Wekel im Vorfeld der Messe dem „ZDF“, wie sich in dessen Webseiteneintrag vom 20. Oktober nachlesen lässt. Die Inflation treibt die Erstellungskosten hoch, der Papiermangel verunmöglicht so einige Projekte. Dazu der Einbruch bei den Verkaufszahlen: Kam die Branche noch recht glimpflich bis ertragreich durch die Krise, weil sich Literatur – ging sie nicht ums Reisen – doch recht gut an jene verkaufen ließ, die zu Hause saßen und sich darauf besannen, dass sie eh mehr lesen wollen im Leben, so schmierten die Zahlen schnell wieder ab, sobald man sich in seiner Freizeit auch wieder unter Leute wagen konnte. Abgesehen davon: Bücher sind Luxus, ein Roman als gebundene Neuausgabe kostet (bei kürzerer Lesestrecke von 200 bis 300 Seiten) gut und gerne das Gleiche wie zwei Monate Standardabo bei Netflix. Die Mehrkosten, sagt Wekel, bleiben in Krisenzeiten bei den Verlagen hängen: „Der Leser, der Kunde, der Liebhaber kann doch nicht das Doppelte bezahlen, was er bislang gewohnt war. Wenn ich sage, ich brauche aber das Doppelte, wird er sagen: Tut mir leid, das kaufe ich nicht.“ Vergleichsweise moderat sind die Preisanstiege bei den gedruckten Exemplaren, die elektronischen Varianten von Neuerscheinungen renommierter Verlage unterscheiden sich letztlich auch kaum vom Regalbewohner aus Zellulose.

Hermann Hesse (1877 – 1962), demnach jedem Anfang keine Geburtswehen, sondern ein Zauber innewohne und man deshalb für den guten Spirit allerlei Wände von Literaturcafés mit Kitschzitaten wie den seinen verschandelt, stellte einmal fest: „Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.“ In der Bundesrepublik hört man darauf, was der Hesse sagt: Das gedruckte Buch hat sich hierzulande im Systemwettstreit mit der elektronischen Variante durchgesetzt. Stieg der Verkauf von eReadern in Deutschland bis 2013 immer weiter an und erreichte damals über eine Million verkaufte Stücke innerhalb eines Jahres, brach der Vertrieb danach wieder ein. Allerdings, wie „Statista“ auflistet, ist das eBook damit nicht gegessen: 2020 und 2021 konnte ein großes Plus verzeichnet werden, was die Verkäufe angeht (2021 wurden in Deutschland auf dem Publikumsmarkt 38 Millionen eBooks verkauft). Trotzdem bleibt die digitale Variante mit einem Marktanteil von zwar steigenden, aber immer noch lediglich 5,9 Prozent gegenüber dem Druckerzeugnis weit zurück. Die Verlage, die auf Kindle, Tolino und Co. setzten, konnten sich damals nicht durchsetzen, das Gelesene wie das ewig Ungelesene präsentabel im Regal stehen zu haben schlug mit seinem Erlebniswert das so spartanische wie nicht vorzeigbare ePub-Dokument. Mag sein, dass staatlicherseits eingegriffen werden mag, wenn Papierprodukte nicht in die räumlich zu minimierenden Wohnungen der Masse der Bevölkerung Platz finden soll beziehungsweise auf den Ausstoß von Kohlendioxid beim Druck geschaut werden wird – erwartbar ist aber eher, dass das Buch als Kulturgut weiterhin so wenig Beachtung erfährt, wie es in der BRD Tradition hat.

Wenn Hesse im angeführten Zitat die Besitzfrage gekonnt auszudribbeln versucht, indem er den bibliophoben Teil des Bürgertums abstraft, bleibt die Buchbranche auf erschreckende Weise zweierlei Ausdruck der deutschen Klassengesellschaft: Für einen Job in einem unabhängigen Kleinverlag bei einer 30-Stunden-Woche ein monatliches Nettosalär von 1.500 Euro zu bekommen ist eher Regel denn Ausnahme. Anstellungen wohlgemerkt, die in der Regel vorab Volontariate und abgeschlossene Masterstudien verlangen. Aber auch die Konsumentenseite zeigt, was Gesetz in der Bundesrepublik ist: Ob und was man liest ist eine Frage der Klasse. Die Bildungsprivilegien, genauso wie der Zugang zu Büchern, sind Herkunftsfragen und prägen Biografien: Wie das Podcastformat des „Hessischen Rundfunks“, „Studio Komplex“, in seiner recht einfallslos betitelten Folge vom 16. Oktober „Die Zerstörung des Buchs“ feststellt, ist das Buch an sich durchaus auch Barriere. 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, so die Statistik aus 2019 laut einer Studie der Universität Hamburg. „Meist sind sie (…) Geringverdiener“, schrieb dazu die „Deutsche Welle“ am 7. Mai 2019. „Das Stilisieren zum prägenden Kulturgut“, sagt Podcaster David Ahlf, „ist aus der Zeit gefallen, sogar in gewisser Weise schädlich.“ Wer sich nicht traut zuzugeben, er lese keine Bücher, weil er grundsätzlich Schwierigkeiten hat mit dem Lesen, der wird von einer von Hesse und Co. geprägten, Hochkultur als Kultur der herrschenden Klasse begreifenden Gesellschaft weiter darin entmutigt, lesen zu üben.

Mögen die Ausblendungen in der Analyse von „Studio Komplex“ auch Methode haben und letztlich die Zerstörung des Buchs nur die Zerstörung des von der Massenverblödung begeisterten Spätkapitalismus verhindern kann, trifft es nichtsdestotrotz den Punkt: das „persönliche Gespräch“, wie Boos es lobt, lohnt nicht, wenn die darin Involvierten Berliner Mieten nicht zahlen können und die davon Ausgeschlossenen höchstens als Putzkraft mitbekommen haben, dass Buchmesse in Frankfurt war.

Quelle: Unsere Zeit