Polizeigesetze bundesweit in Frage gestellt

Am 5. Juni 2020 trat das Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV) in Kraft, jetzt wurde es durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt. In ihrer am 1. Februar veröffentlichten Entscheidung treffen die Karlsruher Richter Weichenstellungen, die nicht ohne Folgen für andere Länderpolizeigesetze bleiben werden.

Das SOG-MV galt als gesetzgeberisches Flagschiff im Ausbau der sogenannten „Vorfeldüberwachung“. Ob bei der Rasterfahndung, bei der Installation von Spähsoftware in Wohnungen, der „Online-Durchsuchung“ und weiteren Überwachungsmaßnahmen, wie der „Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung“, durften Polizeibehörden bisher auf der Grundlage der bloßen Vermutung, es bestünde eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, einschreiten. Die Einsatzvoraussetzung einer „konkreten Gefahr“ hatte das SOG-MV kurzerhand abgeschafft. Das Polizeigesetz schuf außerdem die Möglichkeit, dass verdeckte Ermittler (Polizeibeamte mit Falschidentität) persönliche Bindungen bis zu Liebesbeziehungen zu Ziel-Personen eingingen.

Mit dem Hinweis, der verfassungsrechtliche Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gewährleiste einen „Bereich höchstpersönlicher Privatheit des Individuums gegenüber Überwachung“ kassierte das BVerfG diesen Freibrief zur Polizeiarbeit mit List und Tücke. Die Entscheidung aus Karlsruhe ist ein Erfolg für die „Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die in Koordination mit dem „Bündnis SOGenannte Sicherheit“ die Verfassungsbeschwerde im Juni 2021 eingereicht hatten. Die ehemalige rot-schwarze Landesregierung brachte das SOG-MV unter Federführung des damaligen Innenministers Lorenz Caffier (CDU) entgegen zahlreicher Bedenken juristischer Sachverständiger auf den Weg. In Anspielung auf das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das kurz zuvor verschärft worden war, wollte Caffier im bundesdeutschen Ranking des Abbaus demokratischer Rechte nicht hintanstehen (Zitat: „Bayern ist das zweitschönste Bundesland Deutschlands“).

Der Protest gegen das SOG-MV, der seit 2019 mit Demonstrationen, Kundgebungen und breiter Öffentlichkeitsarbeit die Forderung nach einem Stopp des Polizeigesetzes erhob, hat mit der Karlsruher Entscheidung letztlich nicht nur Innenminister Caffier eines Besseren belehrt, sondern auch die seit November 2021 amtierende neue Landesregierung aus SPD und der Partei „Die Linke“. Von dieser wurde nichts unternommen, um das aus der Ära Caffier stammende Polizeigesetz auch nur ansatzweise zu reformieren oder zumindest bestimmte Regelungen darin einstweilen auszusetzen. Jetzt gibt sich der neue Innenminister besonders eilfertig. Wenige Stunden nach Bekanntwerden des Karlsruher Weckrufs hieß es aus dem Innenministerium, man werde „schnell reagieren“ und bis Jahresende ein neues Gesetz „auf den Weg bringen“. Freiwillig ist diese Frist nicht, das BVerfG gibt der Landesregierung Zeit „zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2023“.

David Werdermann, Verfahrenskoordinator bei der GFF, erwartet, dass nun auch in anderen Bundesländern Konsequenzen folgen müssen: „Tiefe Grundrechtseingriffe wie die Wohnraumüberwachung oder die Telekommunikationsüberwachung sind nur gerechtfertigt, wenn eine konkrete Gefahr vorliegt. Die Polizeirechtsverschärfungen in verschiedenen Bundesländern, die Überwachung weit im Vorfeld einer Gefahr zulassen, verletzen das Grundgesetz“. Man mag der Hoffnung Werdemanns beipflichten, es wäre allerdings das erste Mal, dass Bundesländer Polizeigesetze entschärfen, ohne von Karlsruhe dazu gezwungen worden zu sein.

Quelle: Unsere Zeit