Armut in den USA
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Referat auf einer Mitgliederversammlung der DKP-Gruppe Köln-Innenstadt
Schlafverbot für Obdachlose
Der Supreme Court hat am 28. Juni 2024 Gesetze für verfassungsgemäß erklärt, die Obdachlosen die Übernachtung im Freien verbieten. Sie dürfen keine Kissen, Decken oder Pappkartons an öffentlichen Orten verwenden. Der höchste Gerichtshof der Vereinigten Staaten gab damit der Stadtverwaltung des kleinen Ortes Grants Pass (40.000 Einwohner) im US-Bundesstaat Oregon in letzter Instanz Recht. Sie hatte Maßnahmen gegen Obdachlosencamps in öffentlichen Parks eingeführt. Das Argument, wonach ein Verbot von Obdachlosencamps eine „grausame Bestrafung“ darstelle, wies das Gericht zurück. Wer gegen die Vorschriften verstößt, muss mit Geldstrafen in Höhe von mehreren hundert Dollar und bei Wiederholung auch mit Gefängnisstrafen rechnen.
Walk of Fame
Das Urteil ist ganz aktuell und hatte noch keinen Einfluss auf das folgende Ereignis.
Der Schauspieler Mark Ruffalo wurde für seine Rolle in dem Spielfilm „Poor Things“ für einen Oscar nominiert. Das hatte am 8. Februar 2024 die übliche Ehrung zur Folge. Für den Schauspieler wurde der 2.772. Stern auf dem „Walk of Fame“ enthüllt.
Zuvor indes musste der Platz, wenn man einem Bericht der FAZ vom 12. Februar glauben darf, stundenlang aufgehübscht werden. Man verjagte die Obdachlosen, die an der Kreuzung von Hollywood Boulevard und Highland Avenue übernachtet hatten. Ihre Hinterlassenschaften wurden weggespült. Dann konnte die Bühne für Ruffalo und seine Lobredner aufgebaut werden. Hinter der Bühne wurde die Fensterfront des leerstehenden Hollywood First National Building verhüllt. Schadhafte Bodenplatten bedeckte ein roter Teppich.
Leerstand
Es ist nicht sicher, ob das Hochhaus der Hollywood First National Bank noch Büro-Etagen zu vermieten hatte. Aber es zählt zu den Problem-Immobilien. Schon seit einigen Monaten waren die Preise von Gewerbe-Immobilien dramatisch gesunken. Innerhalb von 12 Monaten um 12,1 Prozent. Bei uns und in den USA. Hohe Leerstandsquoten verursachten Preisstürze und gefährdeten Banken.
Schon im Frühjahr zuvor hatte es am Finanzmarkt erheblich gerappelt. Die Silicon Valley Bank (SVB) musste plötzliche Verluste im Umfang von 1,8 Milliarden Dollar beim Verkauf von Wertpapieren verzeichnen und wurde zahlungsunfähig. Daraufhin übernahm die US-amerikanische Absicherungs- und Aufsichtsbehörde die Kontrolle über das Finanzinstitut. Und die SVB blieb nicht die einzige Bank, die gerettet werden musste.
Skid Row
Der „Walk of Fame“ gleicht mittlerweile weniger einer Ruhmeshalle als einem heruntergekommenen S-Bahnhof. Die Gegend wird alltags von Drogenhandel und Kleinkriminalität behelligt. Neben Downtown und Skid Row, mit etwa 15.000 Obdachlosen eine der größten Zeltstädte der Vereinigten Staaten, gehört Hollywood laut FAZ zu den gefährlichsten Gegenden in Los Angeles. Offenbar möchte die FAZ mit dem Adjektiv „gefährlich“ vor der Kriminalität dort warnen und weniger vor den gesundheitlichen Gefahren, denen Obdachlose ausgesetzt sind. Tatsächlich konzentriert sich in Los Angeles mit 60.000 Obdachlosen die Obdachlosigkeit.
Für das Bürgertum ist aber nicht die Obdachlosigkeit die Gefahr, sondern der Obdachlose. US-weit lag im Januar 2023 die offizielle Zahl der Obdachlosen nach Angaben des Ministeriums für Wohnungsbau bei einem Rekordstand von landesweit 653.100 – eine Zunahme um zwölf Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Skid Row (= Rutschbahn) bezeichnet ein Gebiet von 50 Wohnblocks östlich von Hollywood inmitten der Innenstadt von Los Angeles. Seit Jahrzehnten wird das Viertel von Menschen geprägt, die auf der Straße leben. Im Jahr 2017 brach in der Gegend eine Hepatitis-Epidemie aus, die auch in andere Stadtteile überschwappte. Hier zu leben, ist ungesund. Wohnunglose werden nicht alt. Streetworker karitativer Organisationen versuchen, etwas Essen anzubieten und eine minimale Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten.
Der rapide Anstieg von Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit korreliert mit dem wachsenden Leerstand von Büros und Wohnungen. Eine Helferin klagt: Wenn wir es schaffen, 200 Obdachlose in städtischen Notunterkünften unterzubringen, sind im gleichen Zeitraum wieder 220 Wohnungen zwangsgeräumt worden.
Im reichen Kalifornien ist die Wohnungsnot besonders groß. Laut amtlicher Zählung haben rund 115.000 Menschen keine feste Bleibe. Die Lebenskosten sind immens hoch, für eine Einraumwohnung in Los Angeles werden gerne 2.000 US Dollar an Miete im Monat verlangt. Aber jede Stadt in den USA hat ihre eigene Skid Row. In Los Angeles gibt es sie schon seit 1914.
Zwangsräumungen
Oft reicht ein einziger medizinischer Notfall, um mit der Miete in Verzug zu geraten.
Zunächst helfen vielleicht Freunde. Wenn die das Sofa wieder selbst benutzen wollen, kann vorübergehend das Auto als Wohnung dienen. Dann folgt aber schon der Bürgersteig.
Matthew Desmond, Jahrgang 1979, ist Professor für Soziologie an der Uni Princeton/USA. Sein Buch „Armut – eine amerikanische Katastrophe“ ist im Mai auf deutsch erschienen. Es bietet eine Reihe von empirischen Daten, von denen sonst eher selten zu lesen ist. Er schreibt, dass das Einkommensniveau von Mietern in den USA in den letzten 20 Jahren stagniert. Inflationsbereinigt ist es sogar gefallen, während die Wohnkosten in die Höhe geschossen sind.
„Die Durchschnittsmiete stieg von 483 Dollar im Jahr 2000 auf 1216 Dollar im Jahr 2021. Die Verteuerung betrifft alle Regionen des Landes. Im mittleren Westen sind die Mieten seit 2000 um 112 Prozent gestiegen, im Süden um 135 Prozent, im Nordosten um 189 Prozent und im Westen um 192 Prozent.“ (Desmond, S. 77)
Es gibt Wohngeld, aber nur jeder sechste Mieter, der die Kriterien für Wohnbeihilfe erfüllt, erhält sie auch. Für die überwiegende Mehrheit gibt es keine staatliche Unterstützung bei den Mietkosten. Die meisten Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben und zur Miete wohnen, wenden aktuell mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Miete auf. Und sie zahlen sie, weil die Zwangsräumung droht.
Die US-Regeln sind besonders mieterfeindlich. Meist ist der Kündigungsgrund eine verspätete Mietzahlung. Aber es geht auch ohne Grund. Der Vermieter übermittelt dem Mieter eine „pay or quit“-Benachrichtigung, also die Aufforderung, die fällige Miete zu bezahlen oder auszuziehen. Üblich ist eine Frist von drei bis fünf Tagen. Danach eröffnet der Vermieter ein Gerichtsverfahren. Es beginnt schon nach zwei bis drei Wochen und ist kostenpflichtig. Bis zu 300 Dollar werden fällig. Nach Fristablauf wird die Familie von der Polizei aus dem Gebäude eskortiert. Die Wohnungseinrichtung landet auf dem Trottoir, wenn sie nicht gleich in ein ebenfalls kostenpflichtiges Lager verfrachtet wird.
Hauptursache von Wohnungsräumungen sind laut Desmond prekäre Löhne und ihre unregelmäßige Auszahlung. Die Kündigung von Jobs macht in den USA ohnehin wenig Umstände. Die von Räumung Betroffenen verlieren nicht nur ihr Zuhause. Die Kinder müssen die Schule wechseln, der Kontakt zu Klassenkameraden, zu Freunden, zu den Lehrern ist abgeschnitten. Im Getümmel der Zwangsräumung gehen häufig Gegenstände verloren.
Aber das Verfahren selbst bleibt in den Gerichtsakten dokumentiert und belastet künftige Mietverhältnisse. Häufig hat die Zwangsräumung den Job-Verlust zur Folge, häufiger als umgekehrt, also dass nach dem Job-Verlust die Wohnungskündigung erfolgt. Pro Jahr werden mehr als 3,6 Millionen Räumungsbescheide an Türen geheftet oder persönlich ausgehändigt (Desmond, S. 24).
Die Bestrafung der Armen
Obdachlose erleben häufig Festnahmen. Schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Verordnungen gegen Landstreicherei erlassen, um Arme von Parkbänken und Straßenecken vertreiben zu können.
Desmond:
„Laut den aktuellen Zahlen leben 5,5 Prozent der Bevölkerung in ‘tiefer Armut’. Der Begriff bezeichnet das Armutsniveau unter 50 Prozent der Armutsgrenze. Diese Grenze lag 2020 bei monatlich 531 Dollar für Alleinstehende und 1091 Dollar für eine vierköpfige Familie. In diesem Jahr lebten 18 Millionen Amerikaner in tiefer Armut und mehr als fünf Millionen Kinder unter diesen Bedingungen. Das ist, umgerechnet in Prozente, mehr als in jeder anderen Industrienation. Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass ein Mensch in den USA zum Überleben rund vier Dollar am Tag benötigt – das entspricht der von der Weltbank definierten absoluten Armut, die in Indien und Bangladesh mit ihren niedrigeren Lebenshaltungskosten bei 1,90 Dollar liegt.“
„Von 1995 bis 2018 stieg die Zahl der Haushalte, die Lebensmittelmarken beziehen und kein eigenes Einkommen verzeichnen, von 289.000 auf 1,2 Millionen, was rund zwei Prozent aller Amerikaner entspricht. Die Zahl der obdachlosen Kinder stieg von 794.617 im Jahr 2007 auf 1,3 Millionen im Jahr 2018.“ (a.a.O. S. 25 f.)
Diese Zahl – 1,3 Millionen obdachlose Kinder – steht in deutlichem Widerspruch zur schon oben genannten amtlichen Obdachlosenzahl. Amtlich wird eine Gesamtmenge von 653.100 Obdachlosen gezählt. Offenbar verschwinden Obdachlose in der Statistik.
Desmond schreibt:
„Die Vereinigten Staaten verstecken ihre Armen nicht nur unter Brücken und auf Campingplätzen fernab aller belebten Zentren, sondern auch in Gefängnissen.“ (a.a.O. S. 27)
Noch im Jahr 1975 waren weniger als 380.000 Menschen inhaftiert. Aber dann wuchs die Menge der Strafgefangenen bis zum Jahr 2000 auf 1.931.000 an. Auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) schreibt Heather Ann Thompson über die Gefängnisnation USA (Aus Politik und Zeitgeschichte ) (ApuZ, Oktober 2021):
„2.068.800 Menschen verbüßen in Bundes- oder bundesstaatlichen Gefängnissen eine Haftstrafe, das entspricht einer Inhaftierungsrate von 629 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Darüber hinaus stehen fast 7 Millionen Menschen unter staatlicher Aufsicht, nachdem sie das Gefängnis wieder verlassen haben oder zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurden. Schätzungen zufolge sind derzeit über 80 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner vorbestraft, was in den USA bedeutet, dass es ihnen nahezu unmöglich ist, Arbeit oder eine Wohnung zu finden, und auch die Aussichten auf finanzielle Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen sind gering.
Bei den Inhaftierten handelt es sich überwiegend um People of Color. Ihr Anteil unter den Häftlingen ist weitaus höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. So berichtet die Organisation Sentencing Project: ‘Für Schwarze Männer ist die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung sechsmal höher als für weiße Männer, für Latinos ist sie um das 2,5-Fache erhöht. Bei Schwarzen Männern in der Altersgruppe zwischen 30 und 40 befindet sich etwa jeder Zwölfte in Haft.’ Darüber hinaus stammen die Inhaftierten überproportional häufig aus der Gruppe der US-Bevölkerung, die von allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes über die geringsten Mittel verfügt.“
Aber als Gefangene lernen sie, dass Armut kriminell ist. Sie sollen ihr Verhalten korrigieren.
Eine weitere Folge des exzessiv ausgreifenden Strafvollzugs ist: Fast sechs Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner haben wegen ihrer Verurteilung zeitweilig oder für immer ihr Stimmrecht verloren.
Für die Autorin ist indessen kein Thema, dass das US-Gefängnissystem weitgehend privatisiert ist.
1983 wurde in Chattanooga, Tennessee, auf Geheiß der Einwanderungsbehörde und im Rahmen einer Rundum-Privatisierungs-Initiative, initiiert von der Regierung Reagan und gefördert von neokonservativen Denkfabriken im Verein mit großen Wallstreet-Maklerfirmen wie Merrill Lynch, Prudential-Bache und Shearson Lehmann Brothers, die darin eine Goldgrube für phantastische Gewinne sahen, mit dem Bau des ersten kommerziell betriebenen Gefängnisses des Landes begonnen. Seither hat die Zahl der Plätze im privatwirtschaftlichen Strafvollzug explosionsartig zugenommen (siehe Loic Wacquant, Bestrafen der Armen, Opladen 2009, S.180 f).
Zur heutigen Gefängnisindustrie gehört die Firma CoreCivic Inc., ehemals Corrections Corporation of America (CCA). Das Unternehmen betreibt laut Wikipedia zur Zeit über 60 Anstalten in den USA, wovon sich 44 im Besitz des Unternehmens befinden. In diesen Anstalten werden 75.000 Insassen von über 17.000 Mitarbeitern betreut. Gegründet wurde das Untetnehmen 1983. Seitdem hat es sich, neben der Management and Training Corporation und der GEO Group, zu dem größten amerikanischen Dienstleister in der Gefängnisindustrie entwickelt.
Die GEO Group gibt es seit 1984. Sie betreibt ebenfalls private Gefängnisse, aber auch psychiatrische Einrichtungen. Das Unternehmen ist in den Vereinigten Staaten, in Kanada, im Vereinigten Königreich und in Südafrika tätig und verfügt über 118 Anstalten weltweit. In denen werden zurzeit ungefähr 81.000 Insassen von über 17.000 Mitarbeitern betreut. Im Jahr 2010 übernahm GEO die Firma Cornell Companies, ebenfalls ein großes Gefängnisunternehmen.
Die USA hatten im Jahr 2019 mit 629 Häftlingen pro 100.000 Einwohner die welthöchste Inhaftierungsrate (Wikipedia).
Zum Vergleich: In bundesdeutschen Haftanstalten schmachten 71 Häftlinge pro 100.000 Einwohner.
Am 8. Februar 2016 berichtete der Weltspiegel/ARD vom US-Gefängniswesen. Eine Textstelle lautet:
Alex Friedman hat eingesessen, acht Jahre wegen schweren Raubes. Heute ist er ein Aktivist und kritischer Aktionär. Er hat hier Anteile an kommerziellen Gefängnisunternehmen gekauft, um so von innen Druck auf Firmen und Investoren zu machen. Er sagt: „Diese Gefängnisunternehmen handeln asozial. Sie haben kein Interesse an Resozialisierung. Sie wollen solange wie nur möglich möglichst viele Strafgefangene wegschließen, denn daran verdienen sie.“
Die Sträflingsarbeit wird je nach Bundesstaat mit 14 Cent bis 1,41 Dollar pro Stunde bezahlt. (a.a.O. S. 27)
Vergleich
Jan Priewe, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin), hat die Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland und den USA verglichen. Seine Untersuchung bezieht sich auf das Jahr 2022. Veröffentlicht hat sie Ende Januar 2024 das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ihr zufolge sei die Lage hierzulande bei 10 von 15 wichtigen ökonomischen und sozialen Kenngrößen besser als in den USA.
Aber zunächst scheint sich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zu bestätigen: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf war 2022 in den USA 57 Prozent höher als in Deutschland. Rechnet man mit Kaufkraftparitäten statt dem Wechselkurs, liegt der US-Vorsprung beim BIP pro Kopf immer noch bei 21 Prozent.
Priewes Analyse zufolge verdienen amerikanische Beschäftigte am Ende pro Jahr zwar durchschnittlich 5,3 Prozent mehr als deutsche. Allerdings müssen sie auch deutlich mehr arbeiten und kommen im Schnitt auf jährlich 1811 Arbeitsstunden, während es hierzulande 1341 sind. Als Gründe dafür nennt die Studie unter anderem mehr Urlaubsanspruch, aber auch die höhere Teilzeitquote in Deutschland. Allein bei den Wohnverhältnissen und bei Bildung und Erziehung scheinen die USA leicht im Vorteil zu sein. Allerdings sind laut Priewe die Daten nicht ganz eindeutig. Vor allem vermeidet die Studie nicht immer die Falle, in die gerät, wer auseinanderklaffende Erscheinungen statistisch über einen Kamm schert und dadurch beschönigt. Etwa wenn die deutlich größere Wohnfläche je Einwohner in den USA zum bundesdeutschen Wohnflächendurchschnitt ins Verhältnis gesetzt wird, ohne Rücksicht auf die Verteilung. Auch in den USA leben arme Leute in beengten Verhältnissen.
Dazu sind auch die Wohnverhältnisse in Trailerparks zu zählen. Nach Angaben ihrer Interessenvertretung leben von den 335 Millionen Einwohnern der USA 17 Millionen Menschen in Wohnwagensiedlungen. Schätzungen der Zensusbehörde gehen sogar von über 20 Millionen aus. Sie verteilen sich auf 6,8 Millionen Wohnwagen und Mobilheime. Die Weltspiegel-Schätzung (ARD, 7. April 2024), dass 6 Prozent in Trailerparks wohnen, ist also realistisch.
Die Obdachlosigkeit scheint geringer als in Deutschland, trotz der wesentlich höheren Armutsraten in den USA. Laut Statista vom 2. April 2024 beträgt die Armutsquote in den USA im Jahr 2022 rund 11,5 Prozent. Ein Jahr zuvor seien es noch rund 11,6 Prozent gewesen.
Desmond zählt im Vorwort seines Buches 38 Millionen Menschen, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können.
In der Bundesrepublik wird indes nicht die Armut gemessen, sondern die sogenannte Armutsgefährdung. Nach dem von der EU gesetzten Standard liegt deren Grenze bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens der Bevölkerung in Privathaushalten. Für einen Einpersonenhaushalt waren das im Jahr 2022 1.189 Euro. Die Quote der deutschen Armutsgefährdung liegt laut Statista bei 14,4 Prozent. Das sind die regierungsamtlichen Zahlen.
In der Priewe-Studie kommen einige für die USA vorteilhafte Themenfelder vor. Sie beziehen sich in der Regel auf das wohlhabende Fünftel der Haushalte. Das macht den entscheidenden Unterschied im Verhältnis zu Deutschland aus, gilt aber auch noch für das nächste Fünftel. Umso schlechter sind die bedürftigen letzten drei Fünftel versorgt. Mehr Details gibt die Pressemitteilung zur Studie nicht her, aber sie reicht für die Feststelltung, dass in den USA die Unterschiede deutlicher sind, die Lohnabhängigkeit fragmentierter. Die Einkommensschere klafft weiter auseinander.
Unterdessen schärft ein weiterer Befund dieses Bild. Ich entnehme ihn der FAZ vom vergangenen Freitag (23. August, Autor Winand von Petersdorff). „Aufwärtsmobilität, Wohlstand, Gefängnisstrafen und die Wahrscheinlichkeit, einen Ehepartner zu finden, hängen davon ab, ob der Bürger einen Hochschulabschluss erlangt oder ob er versucht, direkt nach der Schule ins Arbeitsleben einzumünden. In brutaler Deutlichkeit zeigt die Kluft zwischen Schulabgängern und Hochschulabsolventen sich in der Sterblichkeit: Menschen mit Collegeabschluss konnten zuletzt erwarten, 8,5 Jahre länger zu leben als jene zwei Drittel der amerikanischen Erwachsenen ohne Hochschulabschluss.“ Eine weitere Studie zeige, dass dramatisch viele weiße Männer und Frauen an Selbstmord, einer Drogenüberdosis oder an den Folgen von Alkoholmissbrauch sterben. Die hohe Arbeitslosigkeit in den alten Industrierevieren im Rostgürtel („rust belt“) gelte als eine wichtige Ursache.
Der Volcker-Schock
Unter den bedürftigen drei Fünfteln der Bevölkerung verbreitet sich die Armut. Das ist hauptsächlich ein Resultat von Arbeitslosigkeit, der Durchsetzung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Schwächung der Gewerkschaften. Zu Beginn der achtziger Jahre wurden neoliberale Programme zunächst im Finanzbereich durchgesetzt.
Paul Volcker wurde 1979 Chef der Notenbank der USA (FED). Er hob angesichts hoher Inflation die Zinsen an. Der Hypothekarzins, für die meisten Amerikaner der wichtigste Satz, kletterte auf über 18 Prozent. Die Geschäftsbanken gaben die erhöhten Zinsen an die Industrie weiter. Danach gingen zahlreiche Betriebe bankrott. Je höher ihre Schulden, desto schneller. Das führte prompt zu zwei aufeinander folgenden einschneidenden Rezessionen. Massenarbeitslosigkeit lähmte die Gewerkschaften und ihre Fähigkeit, gegen die stagnierenden Reallöhne zu kämpfen.
Desmond nennt Beispiele: 1981 erklärten 13.000 gewerkschaftlich organisierte Fluglotsen die Verhandlungen mit der Luftfahrtbehörde für gescheitert und legten die Arbeit nieder. Zitat:
„Präsident Reagan reagierte postwendend und entließ sie alle. In der Öffentlichkeit regte sich kaum Protest, und die Unternehmen sahen, dass sie kompromisslos gegen Gewerkschaften vorgehen konnten, ohne allzu großen Widerstand befürchten zu müssen.
Im Jahr 1985 drückte der Lebensmittelkonzern Hormel Foods die Stundenlöhne seiner Fabrikarbeiter in Minnesota von 10,69 auf 8,25 Dollar, sperrte die Streikenden aus und stellte neue Arbeiter ein. ‘Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten Streikende entlassen kann, dann muss das wohl salonfähig sein’, meinte ein Kommentar. Eine Branche nach der anderen folgte. Als die Globalisierung um sich griff und immer mehr Fabriken geschlossen wurden, brachen die Gewerkschaften zusammen, und die Arbeitgeber sorgten dafür, dass sie sich nicht wieder erholten.“ (Desmond, S. 59 f.)
Heute sind nur noch 10 Prozent aller Lohnarbeitenden gewerkschaftlich organisiert. Das betrifft vor allem Feuerwehrleute, Pflegekräfte, Polizeibeamte und andere Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes. In der Privatwirtschaft ist die große Mehrheit, nämlich 94 Proztent, nicht organisiert, auch wenn die Hälfte der dort Arbeitenden angibt, sie würden sich einer Gewerkschaft anschließen, wenn sie die Möglichkeit hätten. Den Unternehmern steht indes ein ganzes Arsenal von legalen Methoden zur Verfügung, kollektive Tarifverhandlungen zu unterbinden, Gewerkschaften zu sprengen und Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Aber sie wenden auch illegale Methoden an, zum Beispiel wenn sie Mitarbeiter bestrafen, die sich organisieren wollen, oder mit Schließung drohen. Laut Nationaler Arbeitsbehörde NLRB verstießen in den Jahren 2016 und 2017 rund 42 Prozent der Arbeitgeber während der Kampagnen zur Gewerkschaftsgründung gegen geltendes Recht. In einem Drittel der Fälle entließen sie Arbeitnehmer, weil sie sich organisieren wollten.
Aber in diesem Frühjahr, am 19. April, stimmten trotz derartig widriger Bedingungen die Beschäftigten von Volkswagen in Chattanooga/Tennessee mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zur United Auto Workers (UAW). Ein Erfolg, der die Autogewerkschaft in ihren Bemühungen ermutigen dürfte, weiter Schritt für Schritt die Fabriken im Land zu organisieren.
Der Neoliberalismus pflügte die politische Landschaft um, Arme wurden ärmer und Wohlhabende reicher. Die Spekulation blühte auf. Staatliches Sparen wurde zur Regel, Welle auf Welle wurde privatisiert, was zuvor öffentliche Dienstleistung war. Weitere gesellschaftliche Bereiche wurden der Mehrwertproduktion unterworfen. Gleichzeitig stiegen die Schulden im globalen Süden. Angesichts der Überakkumulation schwärt die Überproduktionskrise weiter. Was sagen Marx und Engels? „wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ (Kommunistisches Manifest, MEW 4, 468)
Gesundheit
Über das US-amerikanische Gesundheitswesen haben wir uns vor einigen Jahren durch den Film Sicko von Michael Moore informiert. Das war sehr eindrucksvoll. Moores Methode ist der Vergleich. Leider kommen dabei die Gesundheitssysteme in Kanada, Großbritannien und Frankreich zu gut weg. Aber die Lage in den USA wird zutreffend geschildert.
Michael Moore hatte sich vor den Dreharbeiten persönliche Horrorgeschichten erbeten. Davon erhält er reichlich, nämlich 25.000 Mails. Er erfährt von Patienten, denen die notwendige medizinische Behandlung verweigert wird, weil die Versicherung die Bezahlung ablehnt. Versicherungsangestellte berichten, dass sie veranlasst worden sind, in den Anträgen nach ungenannten Vorerkrankungen zu suchen, um die Bezahlung verweigern zu können. Im Film kommen einige Beispiele vor. Die Versicherung will nach einer Operation nicht bezahlen, weil eine Frau auf ihrem Antragsformular nicht angegeben hat, dass sie früher einmal eine Pilzinfektion hatte. Auch der skandalöse Rauswurf von obdachlosen Patienten aus Krankenhäusern in Los Angeles ist Thema.
Moore untersucht den Einfluss von Lobbygruppen. Hillary Clinton war die zweitgrößte Empfängerin von Wahlkampfspenden der Gesundheitsindustrie.
Er zeigt, wie freiwilligen Feuerwehrleuten und anderen Rettungskräften, die am 11. September 2001 im Staub des World Trade Centers ihre Arbeit gemacht hatten und in der Folge an den Atemwegen erkrankten, von der Regierung die Erstattung der Behandlungskosten verweigert wird. Grund: Sie waren ja nur als Freiwillige an den Aufräumungsarbeiten beteiligt. Mit einigen von ihnen fährt Michael Moore nach Kuba. Dort werden die erkrankten Feuerwehrleute kostenlos behandelt. Eine Kollegin bricht in Tränen aus, als sie den Asthma-Spray, für den sie in den USA 120 Dollar bezahlen muss, in einer Apotheke in Havanna zum Preis von 5 Cent erhält.
Für das Gesundheitssystem der USA werden laut Wikipedia etwa 1,8 Billionen US-Dollar im Jahr aufgewandt. Dies sind immerhin 17 Prozent der gesamten US-amerikanischen Wirtschaftsleistung und im Vergleich zu Deutschland nahezu das Doppelte pro Kopf. Aber rund 47 Millionen Amerikaner, etwa 16 % der Gesamtbevölkerung, sind nicht krankenversichert. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer von Migranten ohne Krankenversicherung. Für die Versicherten sind üblich: Papierkriege, lange Wartezeiten, Einschränkungen bei der Arztauswahl und Zuzahlungen.
Die ZEIT berichtete am 31. August 2022, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA nach Angaben des Nationalen Zentrums für Gesundheitsstatistik in den Jahren zuvor so stark gesunken sei wie seit fast 100 Jahren nicht mehr. Während US-Amerikanerinnen und -Amerikaner 2019 durchschnittlich 79 Jahre alt wurden, waren es 2021 nur noch 76 Jahre. Allein im Jahr zuvor, also 2021, sank die Lebenserwartung laut Berechnung der Gesundheitsbehörden CDC um elf Monate. Offenbar zeigen sich hier neben den Wirkungen von Covid 19 die Mängel des US-Gesundheitssystems. Laut Wikipedia lag die Lebenserwartung 2022 wieder bei 80,6 Jahren, damit aber weltweit nur auf Platz 46. Als Gründe werden fehlende Krankenversicherungen und Adipositas genannt. Die Lebenserwartung der schwarzen Bevölkerung liegt bei 73,3 Jahren.
Fentanyl
Bis zum Abzug der US-Armee aus Afghanistan im August 2021 wurden dort jedes Jahr bis zu 10.000 Tonnen Opium hergestellt und ausgeführt. Danach brach die Produktion von Opium drastisch ein. Das geht aus einem vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) veröffentlichten Bericht hervor. Demnach ging die hergestellte Menge des Schlafmohns seit dem im April 2022 verhängten Verbot um 95 Prozent zurück – von 6.200 auf 333 Tonnen.
Indessen konnte Opium-Mangel die Opioid-Krise in den USA nicht beenden. Denn an die Stelle von Oycontin trat Fentanyl. Es wird gänzlich synthetisch hergestellt. Das starke Schmerzmittel erhalten unter anderem Krebspatienten, wird aber auch illegal gehandelt. Das synthetische Opioid wirkt 50 Mal stärker als Heroin.
Bis 2017 verdiente das Pharmaunternehmen Purdue mit dem Schmerzmittel Oxycontin laut US-Wirtschaftsmagazin Forbes 35 Milliarden US-Dollar. Der Verkaufserfolg hatte aber toxische Wirkungen. Bereits zwischen 1999 und 2008 stiegen die Zahl der Todesfälle durch Überdosen stark an. Waren es im Jahr 1999 etwa 4.000, steigerte sich die Zahl der Todesfälle bis in das Jahr 2010 auf 16.000. 2017 gab es schon mehr als 28.000 Todesopfer. Bis 2020 sind 588.000 Menschen in den USA an einer Überdosis von Opioiden gestorben (= 70% von 841.000 Überdosisopfern, laut Daten der Centers for Desease Control and Prevention – CDC – vom 25. März 2021). Unterdessen dürften sich die Opioid-Todesopfer aktuell auf eine Million Menschen summieren.
Die Hälfte aller amerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter nimmt täglich Schmerzmittel, bei zwei Dritteln von ihnen sind es verschreibungspflichtige Opioide. Desmond berichtet, dass die Firma Amazon in ihren Versandlagern Automaten aufgestellt habe, aus denen sich die Mitarbeiter kostenlos Schmerztabletten ziehen können (a.a.O. S. 22). Viele Abhängige weichen angesichts der hohen Preise für Oxycontin auf Heroin oder Fentanyl aus. Seit 2016 liegt Fentanyl an der Spitze der Rangliste. Es tötet unterdessen noch mehr Menschen als Heroin oder rezeptpflichtige Schmerzkiller.
In manchen Städten ist ein Viertel der Bevölkerung abhängig und damit auch unfähig, zu arbeiten oder sich um die Familie zu kümmern. Die Krise betrifft nach einem Bericht der Pharmazeutischen Zeitung (PZ) vom 2. September 2019 alle Altersgruppen und sozialen Schichten.
Vor allem in China werden die Grundstoffe hergestellt. Daraus wird Fentanyl produziert, häufig in Mexiko. Von dort kommt es auf Schmuggelwegen in die USA. Das Ärzteblatt (7. August 2024) geht davon aus, dass jährlich 75.000 Menschen in den USA an einer Fentanyl-Überdosis sterben.
Bei einem Besuch im Weißen Haus in Washington (November 2023) versprach Chinas Präsident Xi Jinping seinem Gastgeber Joe Biden, gegen den illegalen Fentanyl-Handel vorzugehen. China wird die Produktion von Rohstoffen für Fentanyl stärker kontrollieren. Es würden drei weitere chemische Produkte auf die Liste der bei Produktion und Verkauf zu überwachenden Substanzen aufgenommen, teilte das Ministerium für öffentliche Ordnung mit. Für den Transport der Substanzen, die auf der Liste stehen, muss nun im Vorfeld eine Genehmigung eingeholt werden. Zudem wird der Verkauf ebenso wie zuvor schon die Produktion streng kontrolliert. Die neuen Regeln sollen am 1. September in Kraft treten (Quelle: Ärzteblatt).
Kamala Harris im Wahlkampf
Angesichts der explodierenden Armut macht Kamala Harris die Lebenshaltungskosten zum Kernthema ihres Wahlkampfs und verspricht die Senkung der Inflation. Zugleich charakterisiert sie Donald Trump als Advokat der Millionäre. Sie will ein Bundesgesetz gegen Preistreiberei in Supermärkten durchsetzen.
Tatsächlich befürworten in einer Umfrage 81 Prozent der Befragten die strafrechtliche Verfolgung der Preistreiberei, das wollen vor allem unabhängige Wähler, junge Wähler und schwarze Wähler. Sehr hohe Zustimmung gibt es auch für Maßnahmen, die den Hauskauf billiger machen, einschließlich Steuererleichterungen und Wohnungsbauprogrammen. Harris’ Antwort auf die Wohnungsnot ist ein 3-Millionen-Wohnungen-Programm. Sie stellt Familien, die zum ersten Mal ein Haus kaufen, 25.000 Dollar in Aussicht, damit sie den Eigenanteil beim Hauskauf aufbringen können. Größte Zustimmung findet in der Umfrage der Hinweis, dass die Regierung die Kosten für Insulin auf 35 Dollar im Monat und die Medikamentenkosten für Rentner in der staatlichen Krankenversicherung Medicare generell auf 2000 Dollar im Jahr limitiert hat. Dazu kommen noch Preissenkungen von zehn gängigen Medikamenten, die 2026 für Rentner in Kraft treten. Die Programme sollen ausgeweitet werden, damit nicht nur Rentner profitieren. (FAZ 19. August 2024)
Eigentumsfragen werden von Kamala Harris aber vermieden. In der Außenpolitik bleibt sie auf Bidens Linie. Von der Kürzung der Rüstungsausgaben, immerhin geht die Hälfte des Bundeshaushalts ans Militär, ist nicht die Rede.
Vor einigen Tagen (jW 17. August 2024) berichtete die Presse, dass die United Auto Workers (UAW), mit rund 400.000 Mitgliedern größte Gewerkschaft der USA, mit einer Kampagne die Kandidatur von Kamala Harris und Timothy Walz unterstützen werden.
Klaus, MV der DKP-Gruppe Innenstadt
Köln, 26. August 2024