Flucht aus Kabul und Deutschlands „Verantwortung“

Seit Sonntag, dem 15. August 2021, spielen sich auf dem Flughafen von Kabul dramatische Szenen ab. Das NATO-Militär hat den zivilen Luftverkehr eingestellt und setzt die oberste Priorität auf die Evakuierung der eigenen Botschaftsangehörigen. Davon, dass die US-Streitkräfte die „Kontrolle“ übernommen hätten, kann aber eigentlich keine Rede sein. Menschengruppen rennen über die Start- und Landebahn und werden von US-Kampfhubschraubern im Tiefflug vertrieben, Einzelne klammern sich verzweifelt an abhebenden Maschinen fest. Auch aus Deutschland wurden Militärtransporter auf den Weg nach Kabul geschickt, um Angehörige der deutschen Botschaft, anderer Ministerien und von NGOs zu evakuieren. Abgesichert werden soll das durch Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte und Feldjäger der Bundeswehr. Es ist davon auszugehen, dass auch Angehörige des Kommandos Spezialkräfte nach Kabul verlegt werden oder bereits vor Ort sind. Die deutschen Militärs werden kaum umhin kommen, mitzuentscheiden und womöglich auch mit Waffengewalt durchzusetzen, wer mitfliegen darf und wer nicht. Auf anderer Ebene geschieht dies bereits durch die Sperrung des Luftraums für den zivilen Luftverkehr, weshalb alle Linienflüge vorerst ausgesetzt sind bzw. umgeleitet werden. Wer jetzt noch aus Kabul raus will, muss an Bord eines NATO-Militärflugzeuges gelassen werden. Auf Twitter finden sich Videos von Menschen, die sich auf der Gangway des vorerst letzten Flugzeuges drängen, das Kabul nach Indien verlassen sollte.

Stefan Recker, Leiter Afghanistan-Büro Caritas International, gab sich im Interview mit tagesschau.de demgegenüber relativ entspannt, was seine persönliche Sicherheit angeht. Angesichts der dramatischen Szenen am Flughafen sah er sich am Abend des 15. Augusts noch wenig motiviert, sich dorthin zu begeben. Wann er genau ausgeflogen werde, wisse er noch nicht, er sei aber auf einer entsprechenden Liste vermerkt. Mehr Sorgen macht er sich um die afghanischen Mitarbeiter*innen der Organisation, für die (zumindest zu diesem Zeitpunkt) von deutscher Seite keine Evakuierung geplant war. Was die weitere Versorgung der Binnenflüchtlinge angeht, zeigte er sich eher zuversichtlich, bezeichnete die Taliban sogar „momentan“ als „extrem kooperativ“.

Das verweist darauf, dass zwar völlig nachvollziehbar Panik in Kabul und auf dem dortigen Flughafen ausgebrochen ist, aber eben nicht Alle erfasst. Die russische Botschaft verkündete am 16. August in sachlichem Ton, dass man das Personal in den nächsten Tagen reduzieren werde und dazu am folgenden Tag Verhandlungen mit Vertretern der Taliban geplant seien. China hat seinerseits angekündigt, friedlich Beziehungen zu den Taliban aufnehmen zu wollen.

Bei denjenigen, die nun teilweise mit Waffengewalt zugunsten des westlichen Botschaftspersonals davon abgehalten werden, Kabul in den Militärmaschinen der NATO-Staaten zu verlassen, dürfte es sich also v.a. um Angehörige jener Zivilgesellschaft handeln, deren Aufbau v.a. in Deutschland immer wieder als großer Erfolg des NATO-Einsatzes hervorgehoben wurde. So sprach Winfried Nachtwei, entschiedener Befürworter der Afghanistan-Mission während der Regierungsbeteiligung der Grünen kürzlich von „einer vitalen Zivilgesellschaft“, die sich in den Städten gebildet habe. Auch in den Debatten im Bundestag zur Verlängerung der Bundeswehr-Mandate wurde stets die Verantwortung für diese Zivilgesellschaft hervorgehoben, so etwa von Aydan Özoğuz (SPD) in ihrem Plädoyer für die Mandatsverlängerung im Februar 2020: „Es gibt unglaublich starke und mutige Frauen in Afghanistan, die jeder Unterdrückung trotzen und trotz ständiger Drohung zu den Versammlungen gehen, um dort deutlich zu machen, dass ihnen ihre Rechte zustehen. Immer wieder bitten sie uns um Unterstützung. Wir dürfen sie hierbei nicht alleine lassen“. Wie Deutschland nun mit dieser Verantwortung umgeht, zeigt sich am Flughafen von Kabul. Da war ihr Fraktions-Kollege Fritz Felgentreu (SPD) in seiner anschließenden Rede schon ehrlicher, als er die tatsächlichen Handlungsparameter des Bundeswehr-Einsatzes benannte: „Der Grundsatz ‚Zusammen rein, zusammen raus‘ gilt, sowohl aus politischen wie aus militärischen Gründen und aus Gründen der Sicherheit“. Überhaupt war in den letzten Jahren zu bemerken, dass der Begriff der „Verantwortung“ in den Afghanistan-Debatten sich immer weiter weg von Afghanistan hin zu den NATO-Verbündeten bewegte. Dies war z.B. wiederholt das Hauptargument von Johann David Wadephul (CDU/CSU), zuletzt im März 2021: „ Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag zustimmen, weil uns das die Vernunft gebietet, weil wir Verlässlichkeit zeigen und weil wir Verantwortung übernehmen … Wir sind verlässlich. Die Amerikaner haben uns in der Tat gebeten, der neuen Administration von Joe Biden zur Seite zu stehen und es ihr zu ermöglichen, einen Friedensschluss herbeizuführen, der sich an konkreten Bedingungen orientiert… Wir brauchen die Amerikaner, und wir brauchen den Erfolg der Biden-Administration. Alle NATO-Partner wollen den Einsatz fortsetzen. Deswegen sage ich an Bündnis 90/Die Grünen: Es reicht nicht, ins Wahlprogramm hineinzuschreiben, dass man zu den Verpflichtungen in der NATO steht. Wenn die NATO an dieser Stelle den Einsatz fortsetzen will, dann muss man im Rahmen der NATO solidarisch handeln“.

Als Vertreter dieser Biden-Administration hat Außenminister Antony J. Blinken am 15. August – während sich die Lage am Flughafen Kabul zuspitzte – noch einmal die offiziellen Ziele der USA in Afghanistan auf den Punkt gebracht: „We went to Afghanistan 20 years ago with one mission in mind, and that was to deal the people who attacked us on 9/11“. Nach offizieller Darstellung wurde die Leiche Osama bin Ladens am 2. Mai 2011 vom US-Militär im Arabischen Meer versenkt, nachdem er zuvor aufgegriffen und erschossen wurde – in Abbottabad in Pakistan, einem mit den USA verbündeten Nachbarstaat Afghanistans, wo er vermutlich bereits seit 2006 gelebt hatte.

Caritas International und allen anderen Hilfsorganisationen, die eine Distanz zur NATO wahren konnten und (auch deshalb) weiterhin in Afghanistan aktiv bleiben können, ist für die kommenden Monate und Jahre alles Gute und alle erdenkliche Unterstützung zu wünschen.

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) – Flucht aus Kabul und Deutschlands „Verantwortung“