Die Dämonisierung Putins ist keine Politik sondern ein Alibi (Henry Kissinger)

Es liegt schon eine Weile zurück, ist angesichts des heute mit heißen Nadeln gestrickten Narrativs zum Ukraine-Konflikt aber umso vielsagender. Die Sowjetunion war gerade implodiert und in ihre nationalen Bestandteile filetiert. In der Ukraine brandeten ein ukrainischer Nationalismus, National-Konservatismus und in der Westukraine auch schon die „Swoboda“-Vorgänger auf, denen gegenüber sich selbst der erzkonservative und mit seinen Kriegsgängen für eine „Neue Welt(un)ordnung“ unter Ägide der USA in die Geschichte eingegangene US-Präsident George Bush genötigt sah, nach Kiew zu reisen und vor einer Karriere dieses aggressiv-ukrainischen Nationalismus zu warnen und zu versuchen die gerufenen Geister wieder etwas einzudämmen.

Brüssel hat sich „fürchterlich verkalkuliert“ (EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen)

Den langen Ost-West-Konflikt um die Ukraine betreffend, gilt freilich das Jahr 2014, das das Land zerriss, in einen Vorposten des Westens verwandelte und schnurstracks in den Bürgerkrieg jagte als entscheidende Zäsur: Lange Zeit hielt es Kiew mit einem ausbalancierten Sowohl-als-Auch (einer sog. „multivektoriellen Politik“) zwischen Ost und West und betrieb gleichzeitig sowohl das Projekt einer Zollunion mit Russland wie auch der Integration in eine Freihandelszone mit der EU voran. Im Februar 2013 stellte die EU in Person des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso die Ukraine (flankierend zur NATO-Osterweiterung) in der Assoziationsfrage allerdings vor die Entscheidung: Entweder-Oder. Parallel zog auch Russland im Herbst 2013 die Daumenschrauben gegen die Ukraine an. Im Gefolge der Ereignisse meinte später auch der frühere EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen dazu, dass sich Brüssel damit „fürchterlich verkalkulier“ habe. Mit der im Anschluss zusätzlich in die Verfassung geschraubten NATO-Beitritts-Ausrichtung eskalierte der „Neue Kalte Krieg“ des Westens auf dem Rücken der Ukraine zwischenzeitlich vollends.

„Die Dämonisierung von Putin ist keine Politik“ (US-Außenminister Henry Kissinger)

Der ehemalige US-Außenminister (1973-1977) und strategische geopolitische Kopf ersten Rangs Henry Kissinger wiederum meinte seinerzeit: „Viel zu oft wird die ukrainische Frage als Showdown dargestellt: ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und prosperieren soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“ Ja, im Tone eines heute taxfrei als „Putin-Versteher“ aus dem Diskurs exkommuniziert würdenden, ging der selbst vielfache Feldherr des States Department (von Vietnam bis Indonesien), sowie Drahtzieher und Unterstützer diverser Militärputsche in Lateinamerika in seinen Ausführungen noch weiter: „Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in der so genannten Kiewer Rus. Von dort aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten Teil Russlands, und die Geschichte der beiden Länder war schon vorher miteinander verflochten. … Selbst so berühmte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky bestanden darauf, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte und sogar Russlands ist.“ Und in Voraussicht der mit dem Maidan-Putsch gezündeten Lunte am Ost-West-Pulverfass warnte er bereits 2014: „Die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, würde jede Aussicht, Russland und den Westen – insbesondere Russland und Europa – in ein kooperatives internationales System einzubinden, für Jahrzehnte zunichtemachen.“ Entsprechend ungewöhnlich offen diktierte er den Barrosos, Obamas, Merkels und Konsorten aus Sicht eines alten Haudegens denn auch weitsichtig ins Stammbuch: „Für den Westen ist die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen einer Politik.“

Es ist „zwingend notwendig, die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zu verstehen und richtig einzuordnen“ (Günter Verheugen aktuell)

Aktuell hat sich in einem bemerkenswerten Interview erneut auch Günter Verheugen wieder zu Wort gemeldet, in dem er gleich zu eingangs an die damals für Furore sorgende Rede Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor 15 Jahren erinnert. Putin, so Verheugen, hat bereits damals „klar gemacht, dass er einen Kurs der Missachtung russischer Sicherheitsinteressen nicht akzeptieren wird. Die Nato-Osterweiterung war in den Augen der russischen Seite das Hauptübel.“ Aber „noch im Jahr 2010 wollte Russland trilaterale Projekte – EU, Russland, Länder der östlichen Partnerschaft – realisieren. Es gab also ganz klar Chancen einer konstruktiven Einbindung Russlands in eine Partnerschaft, die aber leider nicht genutzt wurden“ – so der ehemalige EU-Kommissar weiter. Und entgegen der heute aller Orten aufgebrandeten Hysterie und sich manifestieren Russophobie, schließt er selbstkritisch an: „Auf jeden Fall ist es zwingend notwendig, die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zu verstehen und richtig einzuordnen. Die EU wird auch bereit sein müssen, eigene Fehler aufzuarbeiten. Wenn wir die Vorgeschichte betrachten, sollten wir zwei Fragen genau unter die Lupe nehmen: An wem ist das Minsker Abkommen gescheitert, und wer oder was hat die EU dazu getrieben, sich im Jahr 2013 an einer Regimechange-Operation in der Ukraine zu beteiligen?“

Die angebrachten Zweifel des Interviewers, ob solch Selbstverständlichkeit im heutigen Klima und der grassierenden Kriegsideologien überhaupt noch möglich erscheinen, kontert Verheugen zu Recht: „Das ändert nichts daran, dass man es tun muss. Wenn wir diese ganze Vorgeschichte nicht wirklich ernsthaft aufarbeiten, werden wir praktisch dazu verurteilt sein, dieselben Fehler zu wiederholen. Und wenn ich höre und sehe, dass die Forderung nach Kontextualisierung dieses Konflikts als Appeasement dargestellt wird, da muss ich sagen: Es ist schon merkwürdig, dass über Ursachen und Entwicklungen, die zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg führten, ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Und keiner kommt auf die Idee, das zu kritisieren. Aber wenn gemahnt wird, die ganze Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts, des ersten großen Kriegs in diesem Jahrhundert in Europa, aufzuarbeiten, dann gilt das als Appeasement?“ (Das ganze Interview ist hier nachzulesen).

Nachtrag

Tatsächlich war die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, und damit stärker noch als Verheugen ins Gedächtnis ruft, allerdings nicht das erste öffentliche Murren Russlands über den vorangetriebenen monopolaren Weltherrschaftsanspruch des Westens unter Führung der USA und die Nichtberücksichtigung der essentiellen Sicherheitsinteressen Moskaus. Dieses setzte bereits mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen Jugoslawien 1999, der neuen NATO-Doktrin desselben Jahres, der einseitigen US-amerikanischen Aufkündigung des ABM-Vertrags 2001, den Kriegsgängen der Koalitionen der Willigen gegen Afghanistan 2001 und den Irak 2003, der gegen Russland vorangetriebenen NATO-Osterweiterung, der sogenannten „Rosenrevolution“ in Georgien 2003 und der orchestrierten „orangen Revolution“ in der Ukraine 2004 ein.

Politische Beobachter machten darauf auch seit Mitte der 2000er Jahre zunehmend aufmerksam, was von den Führungsfiguren des Westens in ihrem Weltherrschaftsanspruch jedoch so gut wie nicht weiter zur Kenntnis genommen wurde. Einzig aus diesem Grund platzte die Münchner Abrechnung Putins denn auch wie eine Bombe ins Auditorium und sorgte seinerzeit für ihr Aufsehen. Die vom Westen, insbesondere aber von den USA verfolgte unipolare Weltordnung, so der russische Staatschef seinerzeit, ist für die Welt „nicht nur unannehmbar, sondern überhaupt unmöglich“. Und, so fuhr er bereits damals aus Sicht Moskaus und der Mehrheit des globalen Südens fort: „Dabei ist alles, was sich heute in der Welt abspielt (…) eine Folge der Versuche, gerade diese Konzeption, die Konzeption der monopolaren Welt, in die internationa­len Angelegenheiten hinein zu pflanzen. (…) Heute beobachten wir eine durch fast nichts gezügelte und übertriebene Anwendung von militäri­scher Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in die Tiefen einander ablösender Konflikte stößt. (…) Wir beob­achten eine immer stärkere Vernachlässigung der grundlegenden Prinzi­pien des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne Normen, eigentlich beinahe schon das gesamte Rechtssystem eines einzelnen Staates, in erster Linie natürlich der Vereinigten Staaten, haben die nationalen Grenzen in allen Bereichen überschritten und werden sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik und in der humanitären Sphäre anderen Staaten aufge­drängt.“

Nochmals deutlicher vermerkte Putin aus Sicht Moskaus dann im Zusammenhang des vom Westen orchestrierten Maidan-Putsches 2013/2014: „Wir schlagen ständig Kooperation in Schlüsselfra­gen vor, wir wollen das gegenseitige Vertrauen fördern, wir wünschen, dass unsere Beziehungen auf Augenhöhe stattfinden, dass sie offen und ehrlich seien. Aber wir sehen keinerlei Entgegenkommen. Im Gegenteil, Wir wurden Mal ums Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militäri­scher Infrastruktur an unseren Grenzen. So war es auch mit der Entfal­tung der Systeme der Raketenabwehr. (…) Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position einnehmen, dafür, dass wir diese verteidigen und dafür, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht heucheln. Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell.“

Und unterstrich weiter: „Unsere westlichen Partner, vor allem die Vereinigten Staaten, zie­hen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Er­wähltheit und Exklusivität; daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: Mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip ›wer nicht mit uns ist, ist gegen uns‹.“

Man muss die Sicht Putins nicht teilen oder die russischen Verweise auf die eigenen Sicherheitsinteressen, die Rechtsbrüche der NATO, deren aggressiver Expansionsdrang nach Osten, deren brachiale Suspendierung des Völkerrechts, den Boykott von Minsk-2 durch Kiew (wiewohl auch immerhin UN-Resolution) gar als Rechtfertigung für den Angriff auf die Ukraine gewichten – aber das Ausklammern der maßgeblichen Mit- und genauer wohl Hauptverantwortung des Westens an der bewusst in Kauf genommenen Eskalation um die Ukraine und das ebenso dümmliche wie geschichtsrevisionistische Ausmachen eines weiteren „neuen Hitlers“, der jetzt in Moskau wohne, ist eine interessensgeleitete Kapitulation vor der Wirklichkeit. Dass sich alte Haudegen wie Kissinger und Verheugen dagegen als Dinosaurier einer luzideren politischen Denkeinstellung lesen, lässt hingegen tief blicken.

Quelle: KOMintern