Ankara am Abgrund und im Krieg gegen Kobanê

Die autokratische AKP/MHP-Regierungskoalition in der Türkei befindet sich in einer tiefen, multiplen Krise. Letzten Meinungs- und Wahlumfragen zufolge gaben über 58% der Befragten an, bei der Präsidentschaftswahl kommenden Juni „auf keinen Fall“ für Erdogan zu stimmen. Der turanistisch-faschistischeKoalitionspartner MHP („Partei der nationalistischen Bewegung“ oder besser bekannt als „Graue Wölfe“) liegt in Umfragewerten unter der Wahlhürde und würde den Wiedereinzug in die „Große Nationalversammlung“ (das Parlament) zum gegenwärtigen Zeitpunkt verpassen. Als Antwort auf die Hegemoniekrise verschärft die faschistische Regierungskoalition in Ankara nicht „nur“ abermals ihre Gangart und Repression gegen die Opposition, Linke und kurdische Freiheitsbewegung, sondern versucht zugleichdie Bevölkerung abermals in einen nationalistisch-chauvinistischen Taumel zu jagen und mit der „bewährten“ Nationalismus- und Kriegs-Karte hinter dem „Palast“ zu vereinen. Seit Samstag Nacht fliegt die Türkei denn auch schwere Luftangriffe gegen Kobane und die kurdischen Gebiete in Nordsyrien und im Nordirak.

Die Wirtschaft am Bosporus befindet sich seit Jahren (längst vor der Weltwirtschafts- und Corona-Krise einsetzend) in einer manifesten Dauerkrise, die türkische Lira seit Langem im regelrechten Niedergang. Zahlte man für 1 US-Dollar 2013 noch 1,90 Lira, kostete ein Dollar im August bereits über 18,20 Lira. Selbst das BIP am Bosporus ist seit damals (2013) von 958 Mrd. auf 815 Mrd. Dollar 2021 abgesunken. Die Inflation wiederum ist völlig außer Kontrolle, galoppiert von einem Rekord zum nächsten und liegt gegenwärtig selbst nach offiziellen Angaben bei 83%. Kritische ÖkonomInnen und Gewerkschaften weisen sie in ihren eigenen Berechnungen sogar noch um vieles höher zwischen rund 150% bis 180% aus. Millionen Haushalte der Türkei sind in akuter Bedrängnis. Und die Teuerungen für die Güter des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittel und Energie, zogen sogar noch viel stärker an und sind vollends durch die Decke geschossen. Allein die Miete zu berappen und zu Tanken, hat sich für viele zu einem regelrecht existentiellen Problem entwickelt. Grundnahrungsmittel von Brot und Milch über Butter, Nudeln bis zu Gemüse oder Zucker, ja selbst Tee, ist für Massen kaum mehr erschwinglich und sind zu verkappten Luxusgütern geworden. Aber auch Erdgas und Strom schlagen mit voller Wucht auf die an Kaufkraft immer weiter absackenden Einkommen durch. Die sozialen Verhältnisse erodieren zusehends. Deutlich über 75% der Bevölkerung geben denn auch die Inflation und Arbeitslosigkeit als größtes Problem an.

Dazu rollte eine Pleitewelle über die Klein- und Kleinstunternehmer des Landes. Und der – von Erdogan mit seiner erratischen Geldpolitik regelrecht zusätzlich befeuerte – chronische Wertverfall der türkischen Währung wiederum führt aufgrund der hohen Abhängigkeit des Landes von Importen zur Hyperinflation in einem Ausmaß, das selbst unter den Mächtigsten des Herrschaftsblocks am Bosporus öffentlich erste latente Risse aufscheinen lässt.

Die Unzufriedenheit und der Unmut in der türkischen Gesellschaft wachsen entsprechend quer durch Bevölkerung.Vor diesem Hintergrund startete das türkische Regime in der Nacht von Samstag auf Sonntag nun ihre bereits seit sechs Monaten angekündigten Militäroffensive und bombardierte die symbolträchtige kurdische Grenzstadt Kobanê in mehreren Angriffswellen und eskaliert ihre Angriffe gegen Nord- und Ostsyrien resp. demokratische Selbstverwaltung Rojava – in dessen Zuge die türkische Luftwaffe auch mehrere Stützpunkte der syrischen Armee angriff – sowie die kurdischen Gebiete im Nordirak auf breiter Front. Auch heute Sonntag Nacht rollen wieder massive türkische Luftangriffe gegen kurdische Städte und Dörfer und rückt die türkische Armee am Boden mit schweren Waffen ins Gefecht.

Obschon die mit heißen Nadeln gestrickte Erzählung und falschen Anschuldigungen der Türkei rund um die Bombenexplosion in Istanbul gegen die PKK bzw. YPG/PYD bereits umgehend als Inszenierung des Erdoğan-Regimes in ihren Ungereimtheiten in sich zusammengebrochen ist – und auch von der PKK, der YPG und SDF umgehend und entschieden zurückgewiesen wurden –, tönte das türkische Verteidigungsministerium nach dem verlogenen: „Wir werden zurückschlagen“ von Montag, nun mit: „Zeit für Vergeltung. Die Niederträchtigen werden für ihre verräterischen Angriffe zur Rechenschaft gezogen“. Da Washington sowohl den Luftraum über dem Nordirak wie jenen über Nordsyrien (diesen zusammen mit Russland) kontrolliert, muss davon ausgegangen werden, dass Joe Biden am Rande des G20-Gipfels diese Woche Erdoğan grünes Licht für die Luftschläge gegeben hat. Denn ohne Einverständnis der USA, die gestern Freitag bezeichnender Weise schon Sicherheitswarnung für US-Bürger für die Region herausgegeben hat, wäre die gestartete massive türkische Militäroperation schlicht unmöglich.

Im hiesigen Kontext resümierte der Politikwisseschafter Axel Gehring in seinem Aufsatz zur türkischen Wirtschafts- und Währungskrise bereit vor knapp einem Jahr (Anfang Dezember 2021) hellsichtig: „Die bislang spärlichen Proteste sprechen indessen auch für die Wirksamkeit der Repressionsstrategie der AKP. Trotz aller Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik ist es ihr immer wieder gelungen, die Bildung einer artikulationsfähigen Opposition zu unterbinden. Und sollten die Proteste sich ausbreiten [Ende November 2021 brach eine heftige soziale Protestwelle los, Anm.], verfügt die Partei mit der weiteren Militarisierung der kurdischen Frage über eine «bewährte» Option, diese zu unterbinden.“

Quelle: KOMintern