6. November 2024

Gewerkschaften geben nicht auf und fordern Referendum

Die »Rentenreform«, die Präsident Emmanuel Macron zu einem Hauptvorhaben seiner Amtszeit gemacht hatte, tritt am heutigen 1. September und damit exakt zu dem von ihm langfristig angepeilten Datum in Kraft. Die Streiks und Protestaktionen, die über Monate liefen und an denen sich mehrere Millionen Menschen beteiligten, haben am Zeitplan nichts und am Inhalt der »Reform« kaum etwas geändert. Damit sieht sich Macron mit seiner Überzeugung bestätigt, wonach die verbreitete Meinung, Frankreich sei nicht reformierbar, falsch ist, und daß man – anders als es die meisten seiner Amtsvorgänger taten – nur hart und ausdauernd genug sein muß, um Änderungsvorhaben durchzusetzen.

Als Macron am Mittwoch die führenden Vertreter der im Parlament vertretenen Parteien zu einem Gespräch eingeladen hat, um gemeinsam Themen für den politischen Kalender der nächsten Monate besprechen und so der Amtszeit des Präsidenten nach den Auseinandersetzungen um die »Rentenreform« einen neuen Auftrieb zu verschaffen, wollte er damit Kooperations- und Kompromißbereitschaft signalisieren. Doch als die linken Parteien und Bewegungen das wörtlich nahmen und ein Referendum über die Rentenreform forderten, reagierte Macron kühl und hat das Ansinnen als völlig abwegig vom Tisch gewischt.

Eine solche Geste kann sich der Sieger leisten. Für ihn ist die »Rentenreform« bereits Geschichte. Dagegen wird für die Franzosen jetzt vieles anders. Ab sofort rückt das Rentenalter für jeden dafür in Frage kommenden Jahrgang um drei Monate hinaus. Die neuen Regeln gelten für alle Franzosen, denn die rund vier Dutzend Sonderrentenregime für einzelne Berufsgruppen – von den Eisenbahnern der Staatsbahn SNCF über die vereidigten Schreiber der Notariate bis zu den Tänzerinnen der Pariser Oper – laufen aus. In ihren Genuß kommt nach der »Großvaterregel« nur, wer schon Mitglied ist, denn ab heute wird niemand mehr neu aufgenommen.

Es ist aber bereits absehbar, daß die »Reform« nicht reibungslos anlaufen wird, denn die Ministerdekrete, die die Anleitung für die Umsetzung des komplizierten »Reformgesetzes« für die Praxisbedingungen darstellen, sind längst noch nicht alle erschienen und damit in Kraft getreten.

»Die Folge ist eine höchst unbefriedigende Situation, sowohl für die Angestellten der Rentenkassen als auch für die Betroffenen, die Auskunft über ihre heutige und künftige Situation suchen« sagte die CFDT-Nationalsekretärin Florence Puget, die in ihrer Gewerkschaft für den Bereich Beschäftigung und soziale Absicherung zuständig ist. »Die Rentenreform ist nicht nur von Grund auf ungerecht, sondern die Fristen für ihre Einführung sind auch viel zu kurz. Für einen reibungslosen Übergang hätte man mindestens sechs Monate mehr gebraucht.«

Im Ergebnis werden die Internetseiten und die Telefone der CFDT und der anderen Gewerkschaften durch Massen von Ratsuchenden belagert. Besonders viele Fragen gibt es zu den »Härtefallregelungen« für Beschäftigte mit besonders langer oder besonders komplizierter Berufslaufbahn mit vielen kurzzeitigen prekären Jobs und dazwischen Phasen von Arbeitslosigkeit. Im Prinzip soll das bisherige Rentenalter mit 62 für diejenigen bestehen bleiben, die zwischen dem 1. September 1961 und dem 31. Dezember 1963 geboren sind, allerdings nur, wenn sie 168 Rentenbeitragsquartale nachweisen können. Wer sehr früh ins Arbeitsleben eingetreten ist, beispielsweise mit 16, 18, 21 oder 22 Jahren, kann bereits mit 58, 60, 61 oder 62 Jahren in Rente gehen.

Inzwischen scheinen sich die meisten Franzosen notgedrungen mit der »Rentenreform« abgefunden zu haben. Eine Minderheit teilt die Überzeugung von Präsident Macron und der Regierung, daß die »Reform« unbedingt nötig ist, um das Solidarprinzip der Rentenversicherung aufrechterhalten zu können. Doch es gibt auch nach wie vor Widerstand und der wird vor allem von den linken Parteien und den Gewerkschaften getragen.

Für sie ist die wichtigste Lehre aus den Aktionen der zurückliegenden Monate, daß eine Einheitsfront der Gewerkschaften möglich und überaus wichtig ist. Die zweite Lehre ist, daß kurzzeitige Streiks, zumal wenn sie nur von den unkündbaren Beschäftigten der öffentlichen Dienste und Unternehmen – stellvertretend auch für die um ihre Arbeitsplätze fürchtenden Beschäftigten der Privatwirtschaft – getragen werden, nicht ausreichen. Um Eindruck zu machen und Wirkung zu zeigen, sind viel massivere, längere und vor allem auf vitale Bereiche konzentrierte Streiks nötig. Was bisher hier ablief, ist vom Niveau von Generalstreiks noch weit entfernt.

Für heute und morgen schätzt Sophie Binet, die vor wenigen Monaten neu gewählte Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT ein, daß der Kampf gegen die Rentenreform kein Erfolg war, daß aber »der Preis für Emmanuel Macron und seine Regierung hoch ist und die verbliebenen vier Jahre seiner Amtszeit höchst kompliziert werden«. Durch die mit Gewalt durchgedrückte »Rentenreform« habe er das Vertrauen vieler seiner Wähler verloren, was sich als großes Hindernis bei jedem neuen Projekt erweisen werde.

»Wir werden alle Hebel und alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um weiterhin die Rentenreform als brutal, ungerecht und unnötig zu entlarven und ihre Umsetzung zu behindern«, sagte Sophie Binet. »Wir kämpfen weiter, um durchs Fenster das zu erreichen, was wir durch die Tür nicht erreicht haben.«

Die nächsten Felder des Kampfes sind die bevorstehenden Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden über die Umsetzung der »Rentenreform« hinsichtlich der Bedingungen für Frührente sowie für die Anrechnung der Zeiten für Lehre oder Studium und der Jahre der Arbeit unter extrem schweren und gesundheitlich belastenden Bedingungen.

Außerdem, so konstatierte die CGT-Generalsekretärin mit drohendem Unterton, aber auch mit viel Hoffnung in künftige politische Veränderungen, »kann jede neue Regierung wieder rückgängig machen, was diese Regierung durchgedrückt hat«.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

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