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Dov Khenin: »Unsere Herausforderung in Israel besteht zurzeit darin, noch mehr Israelis davon zu überzeugen, sich dem Krieg zu widersetzen.«

Übernommen von KPÖ:

Am vergangenen Wochenende fand die von Standing Together Vienna organisierte Konferenz Common Ground – Deconstructing Walls statt. Eingeladen waren Friedensaktivist:innen aus Israel, die über die Situation vor Ort, den Genozid, die Übergriffe auf die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland und die erstarkende Antikriegsbewegung sprachen. Gemeinsam wurde auf der Konferenz über Möglichkeiten der Solidarität und Unterstützung mit der Bewegung vor Ort nachgedacht. Rainer Hackauf hat die Gelegenheit genutzt, um am Rande der Konferenz mit Dov Khenin, einem langjährigen Abgeordneten der Kommunistischen Partei in der Knesset und Mitinitiator von Standing Together Israel, ein Interview zu führen.

Du bist Mitinitiator der Initiative Standing Together in Israel. Wofür steht Standing Together?

Standing Together ist eine jüdisch-arabische, sozialistische Graswurzelbewegung. Die Bewegung wurde vor einigen Jahren gegründet, um gewissermaßen eine israelische Linke neu zu erfinden. Die israelische Linke lag bis dahin nicht falsch, was etwa ihre Werte und Positionen betrifft, die israelische Linke war in der Vergangenheit aber einfach nicht erfolgreich. Deshalb haben wir Standing Together als Bewegung gegründet, die aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, um eine bessere Strategie für linke, progressive, sozialistische Arbeit in der israelischen Gesellschaft zu entwickeln.

Was waren diese Fehler der Vergangenheit?

Die Schwäche der Linken, die ich vor Augen habe, lag in unserer Fähigkeit, mit Andersdenkenden zu sprechen und sie von unseren Werten zu überzeugen. Wir sollten aus dieser Schwäche lernen und Wege finden, sie zu überwinden. Daher gibt es Standing Together.

Standing Together hat die Antikriegsbewegung in Israel wesentlich mitinitiiert. Wie habt ihr diese Bewegung aufgebaut?

Der 7. Oktober wurde in der israelischen Gesellschaft als etwas sehr Schreckliches, sehr Beängstigendes wahrgenommen. Ich persönlich habe seitdem an mehr Beerdigungen teilgenommen als in meinem ganzen Leben davor. Viele meiner Bekannten, Kolleg:innen, Aktivist:innen der Friedensbewegung oder politische Verbündete wurden an diesem Tag ermordet.

Das Massaker führte zu einem starken Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft. Politisch war uns daher klar, dass mit dem 7. Oktober ein neues, sehr tragisches Kapitel in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts aufgeschlagen wurde. Klar war auch, dass die rechtsextreme Regierung aufgrund der vorhandenen Angst, der Demütigung, auch der Paranoia mit äußerster Brutalität gegenüber der palästinensischen Bevölkerung reagieren würde. Wir wussten, dass es einen schrecklichen Krieg geben würde. Wir haben davor auch öffentlich gewarnt, nur hat das zu diesem Zeitpunkt niemand gekümmert. Also haben wir uns gefragt, welche Themen sind so dringlich, dass sich die Menschen um uns herum auch tatsächlich bewegen?

Am 8. Oktober, dem Tag nach dem Massaker, haben wir daher entschieden, dass wir gegen die Pläne unserer rechtsextremen Regierung, Unruhen zwischen Juden und Arabern in Israel zu provozieren, mobilisieren wollen. Regierungsmitglieder, allen voran der ganz offen faschistische Sicherheitsminister Ben-Gvir, sprachen davon, dass eine weitere Nakba für die israelischen Araber bevorstehe. Wenn die palästinensischen Staatsbürger Israels nicht vollkommen ruhig blieben, wäre das der Beginn einer großangelegten Vertreibung aus dem Land. Begleitet wurde das von vielen Falschmeldungen, die von der Regierung gestreut oder befördert wurden. In dieser Situation nahmen wir uns also vor, ein jüdisch-arabisches Solidaritätsnetzwerk aufzubauen. Damit wollten wir einer kompletten Eskalation der Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Israel entgegenwirken. Und es gelang uns in Folge tatsächlich tausende von Israelis, sowohl Palästinenser als auch Juden, dafür zu mobilisieren. Das war wirklich gewaltig.
Viele tausende Israelis beteiligten sich daran, Falschmeldungen nachzugehen und aufzudecken, Community-Treffen zu organisieren. Gemeinsam wurde ein selbstorganisierter Sicherheitsdienst zum Selbstschutz gegründet, Juden und Araber hielten also gemeinsam Wache in gefährdeten Straßen und Vierteln. Und tatsächlich ist es uns damit auch gelungen, innerhalb der israelischen Gesellschaft zu deeskalieren. Wir haben damit die Pläne unserer rechtsextremen Regierung verhindern können. Das war ein wichtiger Erfolg für uns. Denn wenn die Regierung Erfolg gehabt hätte, es zu einer Eskalation zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels gekommen wäre, dann wäre unsere Lage heute noch viel schlimmer als sie es ohnehin ist.

Welche Schritte sind danach gefolgt? Wie ist es zu den Massenprotesten gegen den Krieg gekommen?

Mitte Dezember 2023 begannen wir, genau über diese Frage nachzudenken. Also wie können wir die Menschen auch gegen den Krieg mobilisieren? Ausgangspunkt und Zentrum war die Einsicht einer kleinen Gruppe innerhalb der Angehörigen der Geisel, dass ihre Angehörigen nur durch einen Waffenstillstand, ein Ende des Krieges und den Abzug der israelischen Armee aus Gaza lebend gerettet werden können. Anfangs war das zwar nur eine Minderheitsmeinung innerhalb der Angehörigen, doch im Laufe des Jahres 2024 entwickelte sich daraus ein Konsens. Fast alle Angehörigen der Geiseln sprechen sich für ein solches Abkommen aus.

Wir haben diesen Prozess begleitet und unterstützt. Zunächst einmal, weil es sich dabei schlicht um eine moralische Frage handelt. Das sollte eigentlich klar sein. Die Geiseln sind völlig unschuldige Menschen, die entführt wurden. Sie waren nicht für die verfehlte Politik der israelischen Regierung verantwortlich. Daher fordern wir ihre Freilassung. Und wir haben genau das als Ausgangspunkt genommen, um die israelische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Krieg abgelehnt werden muss. Das ist die politische Dimension der Frage. Ende 2024 war das dann auch die Position der Mehrheit der Israelis. Laut mehreren Umfragen unterstützen 75% der Israelis einen Geiseldeal, der alle Geiseln zurückbringt, den Krieg beendet und einen Abzug der israelischen Armee aus Gaza beinhaltet. Dafür gingen auch zehntausende Israelis auf die Straße. Nachdem unsere rechtsextreme Regierung sich aber auf eine Mehrheit im Parlament stützen kann, wird der Krieg trotzdem fortgeführt. Schlicht, damit die Regierenden weiter an der Macht bleiben können.

Anfang 2025 machten wir daher einen dritten Schritt. Wir gaben die Parole „Kriegsdienstverweigerung“ aus. Für israelische Verhältnisse ist das eine sehr radikale Idee, denn bei uns gilt der Militärdienst quasi als säkulare Religion. Und natürlich ist es auch eine schwere Straftat, Menschen in Kriegszeiten zur Kriegsverweigerung aufzufordern. Doch unsere Kampagne erreichte neue Gruppen innerhalb der Bevölkerung. So haben etwa hunderte von Pilot:innen der israelischen Luftwaffe einen Aufruf gegen den Krieg unterzeichnet. Parallel dazu begannen wir, die Bilder der in Gaza getöteten palästinensischen Kinder öffentlich zu zeigen. In Tel Aviv haben wir etwa eine Massendemonstration organisiert, bei der die Teilnehmer:innen hunderte von Bildern palästinensischer Kinder in der Hand hielten. Und das, obwohl die Polizei das Zeigen dieser Bilder zuvor eigentlich verboten hatte. Aufgrund der Größe der Demonstration war sie jedoch nicht in der Lage, die Demonstration aufzulösen und ihr Bilderverbot auch durchzusetzen.

All unsere Bemühungen finden in einer sehr, sehr komplizierten politischen Situation statt. In einer Kriegssituation. Es ist wirklich nicht einfach, in einem Land, das Krieg führt, gegen den Krieg zu kämpfen. Angesichts des israelischen Angriffs auf den Iran stehen uns zudem große Herausforderungen bevor.

Die Forderung nach einem sofortigen Ende des Krieges steht als gemeinsamer Nenner im Zentrum bei euch und wurde Schritt für Schritt mehrheitsfähig gemacht. In Österreich steht oft das Trennende vor dem Gemeinsamen, gerade auch was Forderungen oder Benennungen betrifft. Wie schaut das bei euch aus?

Natürlich ist es sehr wichtig, alle linken Kräfte zu vereinen. Aber wenn man nur eine kleine Minderheit in der Gesellschaft vereint, verändert man nichts. So bewirkt man keinen Wandel. Für mich sind Worte Werkzeuge im politischen Kampf. Der Zweck des politischen Kampfes besteht, wie Marx schrieb, jedoch nicht darin, die Welt neu zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Ich gehe daher davon aus, dass es nicht darum geht, die beste Beschreibung des Geschehens zu finden, sondern die richtigen Worte, um die Situation auch zu verändern.
Unsere Herausforderung in Israel besteht zurzeit nämlich darin, noch mehr Israelis davon zu überzeugen, sich dem Krieg zu widersetzen. Wir werden daher auch von Menschen mit sehr unterschiedlichen Weltanschauungen oder Motiven unterstützt. Nicht jeder, der oder die den Krieg ablehnt, wird unsere gesamte Analyse teilen. Das ist auch nicht relevant. Wir heißen alle willkommen, die bereit sind, sich dem Krieg zu widersetzen. Das ist wichtig. Denn sonst wird der Krieg weitergehen und noch mehr unschuldige Menschen, unschuldige Kinder, werden getötet. Für uns ist das also keine theoretische Frage, es ist ein ganz praktischer Auftrag.

Dov KheninDov Khenin ist ein israelischer Politiker, Politikwissenschaftler und Anwalt, der bis 2019 als Abgeordneter in der Knesset saß. Er war Mitglied des Zentralkomitees der Maki (Israelische Kommunistische Partei), wie wiederum die größte Fraktion innerhalb der sozialistischen Chadasch-Allianz darstellt. 2008 kandidierte Khenin für das Bündnis Ir Lekhulanu („Stadt für alle“) als Bürgermeister von Tel Aviv und erreichte dabei 34,3% der Stimmen. Unter dem Titel »Genosse Dov« ist 2019 ein Film über das politische Wirken Dov Khenins erschienen.
Dov Khenin Dov Khenin ist ein israelischer Politiker, Politikwissenschaftler und Anwalt, der bis 2019 als Abgeordneter in der Knesset saß. Er war Mitglied des Zentralkomitees der Maki (Israelische Kommunistische Partei), wie wiederum die größte Fraktion innerhalb der sozialistischen Chadasch-Allianz darstellt. 2008 kandidierte Khenin für das Bündnis Ir Lekhulanu („Stadt für alle“) als Bürgermeister von Tel Aviv und erreichte dabei 34,3% der Stimmen. Unter dem Titel »Genosse Dov« ist 2019 ein Film über das politische Wirken Dov Khenins erschienen.

Ich bin kein Experte für österreichische Politik, aber ich möchte sagen, dass ich zu dieser Konferenz von Standing Together Vienna eingeladen worden bin. Die Organisator:innen habe ich als eine sehr spannende Gruppe von Menschen kennengelernt, die in Wien leben – sowohl Palästinenser als auch Juden und Israelis. Ich halte solche Gruppen für äußerst wichtig. Es muss darum gehen, nicht nur Slogans zu verbreiten, sondern eine Dynamik zu entfalten, die die Haltung der Menschen auch in Österreich verändert. Und zwar gegen den Krieg in Gaza.

Jeder Krieg endet einmal. Was kommt danach?

Wir haben bei Standing Together vor einigen Monaten damit begonnen, gemeinsam über das zu sprechen, was nach dem Krieg kommt: Frieden. Wir haben daher eine Kampagne gestartet, in der wir über die Möglichkeiten sprechen, die ein kommender Frieden für Palästinenser:innen und Israelis eröffnet. Diese Kampagne ist wichtig. Der Schwerpunkt unserer Bemühungen liegt derzeit jedoch auf der Beendigung des Krieges.

Was ist die Aufgabe der kommunistischen Partei oder von Chadasch in dieser Situation?

Standing Together ist parteiunabhängig. Es gibt keine gemeinsame Struktur mit Parteien, auch nicht die gleiche Strategie. Innerhalb von Standing Together gibt es keine Parteien, 95% der Mitglieder gehören keiner Partei an. Es ist eine Bewegung junger Menschen. Die meisten dieser Menschen machen gerade ihre ersten politischen Erfahrungen.

Die Rolle der Kommunistischen Partei oder von Chadasch ist jedoch eine sehr wichtige. In unserem Parlament ist sie die einzige Partei, die sich offen gegen den Krieg stellt. Auch bezüglich der aktuellen israelischen Angriffe auf den Iran sind Chadasch und die Kommunistische Partei die einzigen, die diesen Angriff klar verurteilen. Das ist sehr, sehr wichtig. Denn parlamentarische Arenen sind wichtige Austragungsorte für unseren Kampf und politischen Wandel. Es besteht also eine Art dialektische Beziehung zwischen Partei und Massenbewegung. Es gibt Dinge, die die Partei viel besser machen kann. Es gibt Dinge, für die eine Massenbewegung notwendig ist. Und es ist gut, das zu verstehen.

Gaza und der Krieg scheinen weit weg von Österreich. Du hast in den letzten Tagen mehrmals betont, dass er mehr mit jedem hier bei uns zu tun hat, als wir vielleicht denken. Wieso das?

Zunächst möchte ich betonen, dass uns, den Friedensaktivist:innen in Israel und natürlich der palästinensischen Bevölkerung, die internationale Solidarität sehr wichtig ist. Wir schätzen diese wirklich sehr. Euer Engagement in unserem Nahostkonflikt ist jedoch aufgrund historischer, geopolitischer, wirtschaftlicher und anderer Faktoren weit mehr als nur eine Frage der Solidarität. Denn der Nahe Osten ist leider ein Ort, an dem es zur Explosion kommen kann. So eine Explosion wird natürlich direkte Auswirkungen auf uns in Israel, unsere palästinensischen Nachbarn, auf Syrien, den Iran und andere Länder in der Region haben. Sie wird aber auch direkte Auswirkungen auf die Menschen in Österreich und in Europa haben. Deshalb ist euer Engagement nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses.

Leider muss ich aber sagen, dass Europa und die internationale Gemeinschaft insgesamt bei der Aufgabe versagt haben, diesen Krieg zu stoppen. Versagt haben sie aber auch dabei zu verhindern, dass er sich ausweitet. Wir sehen das aktuell beim israelischen Angriff auf den Iran und die Reaktion darauf.

In Österreich versuchen wir Druck auf die Regierung aufzubauen, damit diese alles in ihrer Macht stehende tut, damit der Krieg und damit der Völkermord in Gaza beendet wird. Denn das tut unsere Regierung zurzeit nicht. Was würde euch dahingehend unterstützen?

Ich bin voll und ganz der Meinung, dass Europa und die internationale Gemeinschaft Israel und die israelische Regierung deutlich effektiver unter Druck setzen muss, als das bisher geschehen ist. Hier Druck aufzubauen ist daher äußerst wichtig. Er sollte auf die israelische Regierung, die israelischen Siedlungen, das israelische Militär abzielen. Aber auch auf alle Wirtschaftsunternehmen, die mit der Besatzung und der israelischen Regierung kooperieren. Ebenfalls muss Druck aufgebaut werden, damit Palästina auch von eurer Regierung als Staat anerkannt wird. Das ist deshalb wichtig, weil nur ein eigener Staat die Hoffnung auf eine konkrete, alternative Perspektive ermöglicht. Und das würde die Hamas tatsächlich schwächen.

Allerdings ist auch sehr wichtig, in diesem Kampf klar zwischen der israelischen Regierung und der israelischen Friedensbewegung, der Bevölkerung zu unterscheiden. Um ein Beispiel zu nennen, der israelisch-palästinensische Film „No Other Land“ dokumentiert auf sehr eindrückliche Weise den Kampf palästinensischer Dorfbewohner:innen gegen Siedler als auch Besatzungsarmee im Westjordanland. Der Film wurde sogar mit einem Oscar ausgezeichnet. Trotzdem wird der Film von manchen Gruppen, etwa innerhalb der BDS-Bewegung, boykottiert. Ich halte das für nicht hilfreich.
In Israel haben wir den Film landesweit an vielen unserer Orte gezeigt. Jedes Mal kommt es dabei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, weil Rechte versuchen, uns daran zu hindern. Der Boykott aus manchen Teilen der BDS-Bewegung spielt diesen Rechten in die Hände. Sie können nun in der Öffentlichkeit sagen, dass die linken Spinner nun sogar linke Filmemacher:innen aus Israel boykottieren, also alle Antisemiten sind. Und die linken Filmemacher:innen würden wiederum nicht verstehen, dass die Palästinenser genau wegen dieser mangelnden Unterscheidung unsere Feinde sind. Solche Aktivitäten helfen uns jedenfalls nicht dabei, die israelische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es bei der grundsätzlichen Kritik an der israelischen Politik nicht um Antisemitismus geht, sondern um den Widerstand gegen einen brutalen und grausamen Krieg, der gegen die Palästinenser:innen geführt wird.

Die KPÖ steht seit 1967 hinter der Forderung nach einer Zweistaatenlösung. Wie siehst du die Diskussion um einen oder zwei Staaten? Hat sich da in den letzten zwei Jahren etwas verändert?

Ich finde das eine sehr interessante Frage. Persönlich, als Sozialist, hätte ich gerne gar keine Grenzen. Ich wünsche mir einen internationalen, sozialistischen Staat. Perspektivisch soll dieser Staat überhaupt überwunden werden und “absterben”, wie Karl Marx gesagt hat.

In der Praxis leben wir aber in einer Zeit, in der nationale Identität für die Menschen sehr wichtig ist. Deshalb hat die kommunistische Politik seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unterstützt. Das bedeutet natürlich auch die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes. Es beinhaltet aber auch das Selbstbestimmungsrecht der israelischen Juden. Wenn man diesen Willen beider Nationen nach Selbstbestimmung ignoriert, widerspricht man meiner Meinung nach tief verwurzelten, nationalen Gefühlen. Und ich denke, das wäre ein großer Fehler. Ganz praktisch gedacht gibt es auch nicht so viele Beispiele von multinationalen Staaten, die auch erfolgreich waren. Länder wie Jugoslawien und natürlich auch die ehemalige Sowjetunion sind zerbrochen. Wenn mich jemand davon überzeugen will, dass die Idee eines multinationalen Staates, der auch sonst auf der Welt kaum funktioniert hat, in unserer Situation – also mit dem Hass und der Angst sowohl unter Israelis als auch unter Palästinensern – funktionieren kann, halte ich das für zu optimistisch und unrealistisch.

Auch die Zweistaatenlösung ist natürlich mit vielen Hindernissen und Problemen verbunden. Wenn wir von so einer Lösung sprechen, dann sprechen wir von einer Lösung mit zwei demokratischen Staaten. Und natürlich müssen die Minderheiten in beiden Staaten die gleichen Rechte erhalten. Selbstbestimmung bedeutet nicht Diskriminierung. Auch das internationale Recht besagt das. Man kann auch weiterdenken, wie diese beiden Staaten eine Konföderation bilden können oder wie offene Grenze geschaffen werden können. All diese Ideen sind sehr wichtig. Aber in unserer Situation kann man das grundsätzliche Recht beider Völker auf Selbstbestimmung nicht einfach abstreiten.

Israel hat vor kurzer Zeit den Iran angegriffen, die beiden Länder befinden sich im Krieg miteinander. In Österreich wird der Angriff in der Öffentlichkeit mitunter als “Präventivschlag” gegen das Atomprogramm gedeutet, der vielleicht nicht legal, aber legitim sei, um Israels Sicherheit zu gewährleisten. Ist das so?

Ich stimme dieser Sicht überhaupt nicht zu. Ich denke, dass dieser Krieg das Gegenteil bewirken wird. Der Angriff auf den Iran wurde zwar bisher mit einigen taktischen Erfolgen geführt. Aber wenn man in politischen Kategorien denkt, sollte man nicht nur an Taktik denken, sondern zwei Schritte voraus. Israel und selbst die Vereinigten Staaten sind schlicht nicht in der Lage, die nuklearen Kapazitäten des Iran zu zerstören. Die Anlagen befinden sich 300 oder 400 Meter unter der Erde, die kann man nicht einfach aus der Luft bombardieren.

Es gab in der Vergangenheit aber einen anderen Weg, den Iran daran zu hindern, auf ein militärisches Atomprogramm zu setzen. Dieser Weg war das internationale Abkommen, das von Iranern, Europäern und Amerikanern unterzeichnet wurde. Bis der israelische Premierminister Netanjahu US-Präsident Trump unglücklicherweise davon überzeugen konnte, das Abkommen aufzukündigen. Der Austritt aus dem Abkommen ermöglichte es dem Iran infolge tatsächlich, sein Atomprogramm voranzutreiben. Laut israelischen und amerikanischen Geheimdiensten heißt es bisher, dass die Iraner sich noch nicht für die Entwicklung von Atomwaffen entschieden haben. Sie bauten ihre Fähigkeiten dazu auf, haben sich aber nicht für den letzten Schritt entschieden. Mit dem Angriff auf den Iran hat das iranische Regime nun einen perfekten Vorwand, um diesen Schritt zu gehen. Sie können jetzt sagen: „Wir waren bereit für eine Einigung. Sie haben uns angegriffen. Wir haben keine andere Wahl.” Das ist eine extrem gefährliche Entwicklung.

Meine Heimatstadt Tel Aviv wird gerade von iranischen Raketen getroffen. Sieht so Sicherheit aus? Der Angriff auf den Iran ist ein extrem abenteuerlicher, verrückter Schachzug von Netanjahu und der israelischen Führung. Es ist Ausdruck völliger Verantwortungslosigkeit, nicht nur für die Zukunft unserer Nachbarn, sondern auch für die Zukunft der Israelis. Deshalb halte ich es für unerlässlich, dass die Weltgemeinschaft alles Mögliche tut, um diese weitere Eskalation zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das Ziel muss sein, ein Abkommen zu schließen, das dem Iran die Fortsetzung seines zivilen Atomprogramms ermöglicht, ihn aber von der militärischen Option abhält.

Weil Netanjahu gerade erwähnt wurde, wie lange wird es ihn noch geben? Es scheint so, als könnte man ihn nicht loswerden, da er immer wieder zurückkommt.

Letzte Woche gab es in der Knesset eine Debatte über Neuwahlen. Netanjahu hat alle möglichen politischen Tricks angewendet, um Neuwahlen zu verhindern. Warum? Er weiss, dass er die Wahlen verlieren würde. Vor dem Angriff auf den Iran vertrat Netanjahu nur noch eine absolute Minderheit in der israelischen Bevölkerung. Natürlich kann ihm der Angriff auf den Iran nun kurzfristig Popularität verschaffen, denn es gab militärische Erfolge. Ich glaube jedoch, dass der Groll gegen Netanjahu in weiten Teilen der israelischen Öffentlichkeit sehr, sehr tief sitzt. Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir Netanjahu und die Clique ultra rassistischer und faschistischer Gruppen um ihn herum, endlich loswerden. Wir hatten schon viele schlimme Regierungen in Israel, das ist aber mit Abstand die Schlimmste.

Wenn wir ihn los sind, heißt es aber nicht, dass wir in Israel dann eine progressive Regierung bekommen werden. Das wird sicher nicht passieren. Wir werden wahrscheinlich eine Koalition aus Kräften der linken und der rechten Mitte bekommen. Es wird eine schwierige Koalition sein, wir werden sie scharf kritisieren und auch einiges bekämpfen. Aber es wird weniger Kriege geben als in der aktuellen Situation. Und hoffentlich können wir mit der Beseitigung Netanjahus und der Beendigung des Krieges eine andere Dynamik in Israel auslösen. Damit könnten sich neue Möglichkeiten und Wege eröffnen, um Schritte hin zur Lösung der tiefgreifenden Probleme zu machen, die weder die Rechte noch die Mitte lösen können.

Quelle: KPÖ

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