24. Juni 2025

24. Juni 2025
IsraelPalästinaYeni Hayat

Wachsende Kritik an Israels Gaza-Politik bleibt ohne Konsequenzen

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Von einer spürbaren politischen Kehrtwende kann keine Rede sein – doch die Tonlage hat sich deutlich verändert: Westliche Verbündete Israels zeigen sich zunehmend kritisch gegenüber der Militärpolitik von Premierminister Benjamin Netanjahu im Gazastreifen.

Dilan Baran

Rhetorischer Wandel in London, Brüssel und Berlin

Nach eineinhalb Jahren eskalierter Gewalt der israelischen Armee im Gazastreifen wächst der Druck auf Israels traditionelle Partner im Westen, insbesondere angesichts der dramatischen humanitären Lage. Großbritannien hat die Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit Israel ausgesetzt, die EU überprüft ihr Assoziierungsabkommen mit dem Land – ein Schritt mit symbolischer, aber auch wirtschaftlicher Tragweite, da rund 30 Prozent des israelischen Außenhandels über die EU laufen. In Deutschland, das Israel mit einer undefinierten „Staatsräson“ quasi als unantastbar erklärt hat, überrascht der neue Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit ungewohnt deutlichen Worten. „Das Ausmaß des menschlichen Leids in Gaza kann nicht mehr mit dem Kampf gegen Hamas-Terrorismus gerechtfertigt werden“, sagte er Ende Mai auf einer Konferenz in Berlin. Auch Außenminister Johann Wadephul (ebenfalls CDU) betonte, dass Deutschlands Unterstützung Israels nicht als Freifahrtschein für völkerrechtswidriges Verhalten missverstanden werden dürfe.

Sogar, der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, der noch vor wenigen Wochen die „Umsiedlungspläne“ der Palästinenser des US-Präsidenten aus dem Gaza-Streifen für akzeptabel hielt und den Verfassungsschutz an deutschen Universitäten einsetzte wollte, weil das „Ausmaß der kritiklosen Blindheit gegenüber der Hamas“ in diesen Kreisen „wirklich atemberaubend“ sei, forderte nun eine ehrlichere Debatte über den Begriff “Staatsräson”. “Wir müssen uns mit aller Kraft dafür einsetzen, die Sicherheit Israels und der Juden weltweit zu bewahren. Aber wir müssen auch klar sagen, dass das keine Rechtfertigung für alles ist”, sagte Klein der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, habe nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es könne auch nicht deutsche Staatsräson sein.

Für deutsche Verhältnisse kommt diese neue Rhetorik einem kleinen politischen Durchbruch gleich. Nachdem Merz erstmals offen zwischen der Politik der israelischen Regierung und dem Schutz jüdischen Lebens unterscheidet, schafft er Raum in der öffentlichen Diskussion, Kritik an den israelischen Machthabern und ihrer Politik zu äußern, ohne automatisch als antisemitisch diffamiert zu werden. Das ist bemerkenswert in einem politischen Klima, in dem seit dem 7. Oktober 2023 sehr verschärft nahezu jede Form der Kriegsgegnerschaft zum Anlass genommen wurde, Menschen zu diskreditieren, zu entlassen, zu canceln, abzuschieben, ihnen den Beruf zu verbieten oder die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu entziehen.

USA: Trumps Frust über Netanjahu

In den USA macht sich ebenfalls ein Riss im Verhältnis zur israelischen Führung bemerkbar – Präsident Donald Trump, der im Februar noch davon sprach, den Gazastreifen in eine wirtschaftliche Freihandelszone zu verwandeln, reagierte scharf, nachdem Netanjahu die jüngste Militäroffensive mit Trumps Plan in Verbindung gebracht hatte. Die USA bemühten sich nun darum, „diese Situation so schnell wie möglich zu beenden“, so Trump. Hinter dieser Kurskorrektur steht vor allem geopolitisches Kalkül: Trump, der im Mai in Riad seine sogenannte „Stability-for-Prosperity“-Agenda für den Nahen Osten präsentierte, sieht den anhaltenden Krieg in Gaza zunehmend als Hindernis für seine eigenen strategischen Ziele. Beobachter sprechen von wachsender Frustration Trumps gegenüber Netanjahu – vor allem, weil der Krieg Verhandlungen mit wohlhabenden arabischen Staaten und ein mögliches Atomabkommen mit dem Iran blockiert. Trump verfolgt dabei deutlich seine „America First“-Logik, in der die Deals in der Region über der traditionell engen Bindung an Israel steht.

Kritik ohne Konsequenzen für Gaza

Trotz der schärferen Rhetorik bleibt es bislang bei symbolischen Maßnahmen. Waffenlieferungen an Israel gehen weiter – auch wenn einige SPD-Abgeordnete einen vertraglich vereinbarten Aufschub fordern. Die Bundesregierung verweist auf die Notwendigkeit einer „Einzelfallprüfung“ und die Einhaltung des Völkerrechts, ohne jedoch konkrete Zahlen zu veröffentlichen. Die Haltung Berlins zur EU-Debatte über das Assoziierungsabkommen zeigt die Grenzen der Kritik auf: Deutschland stellte sich gegen den niederländischen Vorstoß, das Abkommen formell auszusetzen. Eine typische deutsche Gratwanderung zwischen propagierter historischer und aktuell menschlicher Verantwortung bzw. ihrer Glaubwürdigkeit.

Der Westen kommt zu spät

Beobachter wie Clemens Chay vom „Middle East Institute in Singapur“ betonen: Die Rhetorik des Westens kommt „zu spät und ist zu schwach“. Die jetzt geäußerte Empörung westlicher Politiker sei in erster Linie Reaktion auf massiven öffentlichen Druck. Natascha Lennard, Redakteurin der „The Intercept”, spricht von einer “großen liberalen Tradition der Mitte“, sich auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür schon lange vorbei ist. Wir erleben, dass diese große Tradition jetzt wiederholt wird. Die Politikwissenschaftlerin Monica Marks kritisiert das westliche Verhalten als „bloße Fassade“. Ohne Sanktionen oder andere konkrete Maßnahmen blieben Tweets und Appelle wirkungslos. „Kinder in Gaza werden weiterhin verhungern, verbrennen und zu Waisen“, sagte sie. Netanjahu dagegen ziehe seine Linie der vollständigen Besetzung und systematischen Zerstörung Gazas weiter durch.

Symbolik statt Substanz

So sehr sich die Sprache verändert hat – echte politische Konsequenzen bleiben aus. Weder Washington noch Berlin, London oder Brüssel haben bislang bereitwillig auf den Hebel der wirtschaftlichen oder militärischen Zusammenarbeit verzichtet. Israels Regierung scheint dies zu wissen und setzt ihre Offensive unbeirrt fort. Der politische Diskurs mag sich öffnen, doch ein Kurswechsel ist nicht in Sicht. Der Westen steht an einer Weggabelung – zwischen historischen Loyalitäten, moralischer Glaubwürdigkeit  und wachsendem Unmut in der eigenen Bevölkerung. Noch jedoch dominieren taktische Zurückhaltung und diplomatische Ausweichmanöver. Die Menschen in Gaza zahlen täglich weiter den Preis.

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben