Der Kapitalismus im Gesundheitssystem

Daß in Deutschland Pflegenotstand herrscht, ist schon seit einer Dekade Allgemeinwissen. Die Beschäftigten in Krankenhäusern und in Altenheimen haben begonnen, sich zu wehren gegen Personalabbau, Privatisierung, Ausgliederung von Laboren, Reinigung und Datenverarbeitung, vor allem gegen die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft wegen Personalmangel.

Der oder die einzelne sucht den Ausweg durch Flucht aus dem Beruf. Als Kern des Übels gilt mit Recht das System der Fallpauschalen. Nach diesem System wird seit 1993 abgerechnet. Seit damals wird nicht mehr gefragt: »Welche Behandlung braucht der Patient?«, sondern »Welche Erlöse bringt der Patient?« Seit damals wurde munter privatisiert und nicht mehr mit den Krankenkassen abgerechnet, was die Behandlung der Patienten an laufenden Kosten verursacht hat. Sondern das Krankenhaus bekam die Pauschale, die für einen Eingriff zwischen Kassen und Krankenhäusern vereinbart war.

Jetzt lohnte es sich, die Kosten durch Personalabbau zu reduzieren. Es lohnte sich, Behandlungen durchzuführen, die hohe Pauschalen brachten und dafür die Pflegezeit im Bett zu reduzieren. Es lohnte sich für den Investor, Krankenhäuser zu bauen oder zu kaufen. Der Kapitalismus war auch in diesem Teil des Gesundheitssystems angekommen.

Auch wer in die Marktwirtschaft verliebt ist, begreift gelegentlich, daß manches nicht ohne staatliche Steuerung funktioniert. So etwa Gesundheitsminister Jens Spahn, der bereits am 19. April dieses Jahres feststellte: »Der öffentliche Gesundheitsdienst ist der Dreh- und Angelpunkt zum Umgang mit dieser Epidemie.« So steht es auch im Gesetz, wonach die Gesundheitsämter »für die Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten verantwortlich sind«.

Zwischen 2000 und 2014 ist die Zahl der in diesen Ämtern Tätigen von 39.000 auf 29.000 gesunken – man konnte ja nicht wissen, daß eine Epidemie kommen würde. Auch waren die Verantwortlichen anscheinend überzeugt, daß der Markt Fragen der Gesundheit locker lösen würde. Ob das bei der Überwachung von Fleischfabriken und anderen im internationalen Wettbewerb stehenden Privatunternehmen und bei der Überwachung von Sammelunterkünften für Billigarbeiter gut funktioniert, wird von hellen Köpfen langsam bezweifelt. Seit Spahns neuer Erkenntnis im April wurde von Bund und Ländern beschlossen, bis 2026 in den Gesundheitsämtern 5.000 (in Worten fünftausend) Vollzeitstellen zu schaffen. Ein lautes Bravo an dieser Stelle. Bis es soweit ist, helfen Bundeswehr und Medizinstudenten ohne Aushilfsjobs bei der Nachverfolgung von Infektionen aus.

Eigentlich wäre die Coronaseuche eine prima Gelegenheit, das Gesundheitssystem ein bißchen gesünder zu machen: Dazu wäre eine enorme Personalaufstockung in der Pflege selbst und in den Ämtern nötig. Die Privatisierung der letzten Jahrzehnte müßte rückgängig gemacht werden. Das profitfördende System der Fallpauschalen müßte fallen. Effizienzgewinne winken anderswo. Die Finanzierung des Gesundheitssystems durch angeblich konkurrierende Kassen wäre fällig. Selbst in so neoliberal dominierten Parteien wie der SPD oder bei den Grünen ist die Bürgerversicherung für alle populär. Sie könnte der verrückten Zweiklassenmedizin ein Ende bereiten. Bisher allerdings alles im Irrealis.

Lucas Zeise

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Der Kapitalismus im Gesundheitssystem