10. Oktober 2024

Kollaps mit Ansage

Während der Gesundheitsministerkonferenz im Juni 2018 in Düsseldorf musste sich Gesundheitsminister Jens Spahn von einer Krankenschwester der Uniklinik Essen vor 4.000 zornigen Krankenhausbeschäftigten fragen lassen: „Wissen Sie, was es heißt, einen Menschen alleine sterben zu lassen?.“ Ob er heute mit Blick auf die aus dem Ruder gelaufene Situation in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen daran zurückdenkt? Sollte er Bilanz ziehen, müsste er feststellen, dass die Politik der Bundesregierung seit damals dazu führt, dass heute Menschen sterben.

Am 19. Dezember 2020 werden 4.939 Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf deutschen Intensivstationen behandelt, davon 53 Prozent beatmet. Das sind 600 intensivpflichtige Corona-Erkrankte mehr als in der Woche zuvor. Von den rund 27.000 Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern sind laut Intensivregister noch etwa 4.750 Betten frei. Verschwiegen wird in der Statistik, dass schon nicht genug Pflegepersonal für die aktuelle Belegung da ist, geschweige denn für weitere tausende intensivpflichtige Covid-Erkrankte.

Schon am 1. November 2020 forderte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler: „Angesichts der rasanten Ausbreitung der Pandemie müssen die Krankenhäuser elektive, also planbare, Eingriffe schnellstmöglich herunterfahren. Wirtschaftliche Erwägungen dürfen hier keine Rolle spielen.“ Die Realität war eine andere. Über Wochen hinweg wurde der Krankenhausbetrieb nicht im notwendigen Maße heruntergefahren. Hintergrund waren laut Krankenhausbetreibern die nicht geklärten oder zu niedrigen Ausgleichszahlungen für nicht belegte Betten. Mit den Fallpauschalen (DRGs), die Behandlung lukrativ oder weniger lukrativ machen, hatte selbst in der absehbaren Überforderung der Krankenhäuser der ökonomische Anreiz Priorität. Krankenhausvorstände spielten Vabanque mit dem Leben der Bevölkerung und der Gesundheit der Beschäftigten. Die politischen Entscheider ließen ihnen diese Möglichkeit, da sie weder die ökomischen Anreize aussetzten noch die Reduzierung von verschiebbaren Operationen verbindlich anordneten, sondern lediglich Empfehlungen aussprachen.

Auf den Intensivstationen führt dies jetzt zu einer Situation, in der das Personal jeden Tag damit klarkommen muss, dass sie die Versorgung der Patientinnen und Patienten auf das Maß der absoluten Notwendigkeit reduzieren und menschliche und pflegerische Grundstandards nicht mehr eingehalten werden können. Bei der Frage, wer Anspruch auf eine Beatmung hat, geht die Debatte unter der Überschrift „Triage“ gerade erst los. Bei der täglichen Versorgung setzen sich Pflegepersonal, Ärztinnen und Therapeuten schon jetzt jeden Tag damit auseinander, indem sie faktisch aufgrund von zu wenig Personal über Fragen wie diese entscheiden müssen: Kann eine bestimmte Patientin noch länger auf die Gabe von Schmerzmitteln verzichten? Was ist wichtiger, Herrn X schon viel zu verspätet sein Essen zu reichen oder Frau Y zu säubern, die in ihren Exkrementen liegt? Die Fragen, ob Zeit für ein Gespräch mit einem sterbenden Patienten oder gar für die eigene dringend notwendige Pause ist, stellen sich da nicht mehr.

All das wird verlangt von Beschäftigten, denen seit Jahren bessere Arbeitsbedingungen und besserer Lohn vorenthalten werden. Sie sollten mit Placebos wie der Corona-Prämie beruhigt werden, die nicht mal ein Viertel der Beschäftigten erhalten hat. Fast nebenbei müssen sie mit der Realität leben, dass zum Beispiel Pflegekräfte ein 56-prozentig höheres Erkrankungsrisiko an Covid-19 haben als der Durschnitt aller Beschäftigten.

Die Versäumnisse im Sommer, in dem eine Vorbereitung auf die zweite Welle möglich gewesen wäre, und die jetzigen Entscheidungen, die immer noch nicht stringent genug sind, um die Pandemie zu brechen, wirken unmenschlich und nicht nachvollziehbar. Im kapitalistischen System sind sie aber sowohl logisch als auch zweckdienlich. Auch eine Krise wird unter dem Blickwinkel der Profitmaximierung behandelt. Insofern müssen wir den Kapitalismus bekämpfen, um Pandemien wie Corona beherrschbar zu machen.

Quelle: UZ – Unsere Zeit – Kollaps mit Ansage

Wirtschaft & Gewerkschaft