USA: Leviathan im Endkampf

Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)

Es ist erstaunlich, wie leicht es einem rechten bis rechtsextremen Mob mit Obskurantenanhang gelungen ist, nicht nur überhaupt ins Kapitol in Washington D.C. einzudringen, sondern sogar bis in die Sitzungs- und Büroräumlichkeiten des Senats bzw. Repräsentantenhauses – und die Abgeordneten sowie den amtierenden Vizepräsidenten zu vertreiben. Für die hoch überschätzte bürgerliche Demokratie der USA mag dies ein Schock sein, für alle anderen möge es ein warnendes Symbol darstellen. Nämlich für das umfassende Scheitern des US-Staates, seines politischen und seines Gesellschaftssystems.

Das US-Imperium befindet sich schon lange im Abstieg, teilweise wankt es auf tönernen Füßen, doch es fällt nicht so einfach – schon gar nicht, wenn die „Aufständischen“ eigentlich zu seiner Rettung antreten. Sie werfen der Politikerkaste und der herrschenden Elite vor, den groß inszenierten Freiheitsgedanken, der an der Wiege der Amerikanischen Revolution und Unabhängigkeit stand, mit Füßen zu treten – und haben dabei nicht einmal so unrecht. Der nordamerikanische Kapitalismus und Imperialismus zeigt ganz natürlich Aspekte einer räuberischen und rücksichtslosen Plutokratie mit globalem Durchsetzungsdrang. Der US-Imperialismus ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach der Konterrevolution in der UdSSR und Europa, hegemonial geworden, als selbsternannter „Weltpolizist“, als angeblicher „Hort der Freiheit und Demokratie“, nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch kulturell und medial, nicht zuletzt natürlich militärisch. Ironischer Weise markiert sein „größer Sieg“ – jener im „Kalten Krieg“ gegenüber Moskau – den endgültigen Beginn seines Niedergangs. Denn die weitgehend ungehemmte Neuentfaltung des nach außen aggressiven, im Inneren repressiven Wesens des Imperialismus auf höchster Stufe erschuf ein Monster, das nicht mehr zu kontrollieren ist.

Freilich hatte sich das schon zuvor abgezeichnet, insbesondere auf internationaler Ebene. Es gehört zum fixen Anspruch des US-Imperialismus, seine Interessen weltweit umzusetzen. Er überzieht die Erde mit einer Blutspur, mit militärischen Aggressionen und Kriegen gegen Dutzende von Ländern und Völkern, mit politischen, geheimdienstlichen und „diplomatischen“ Interventionen, mit inszenierten Staatsstreichen, Bürgerkriegen und Putschversuchen, mit einseitigen Rechtsauffassungen, mit wirtschaftlichen Blockaden und Sanktionen – alles hübsch verpackt unter einem Sternenbanner-Mäntelchen von „Freiheit und Demokratie“ (und ironischer Weise oft, indem die jeweiligen Wahlergebnisse oder Regierungen einfach nicht anerkannt wurden/werden). Doch es ist keine Demokratie und keine Freiheit, wenn man im Weißen Haus, im Pentagon, in Langley, an der Wall Street und in Silicon Valley entscheidet, was die Völker und Länder der Erde zu tun und zu lassen haben. Dagegen gab und gibt es Widerstand, historisch etwa in Korea, in Guatemala, in Vietnam, in Kuba, in Chile, selbst im kleinen Grenada etc. – mit wechselndem Erfolg. Das setzte sich nach 1989/90 fort, auf ganz unterschiedlicher, teilweise falscher ideologischer Basis, u.a. in Jugoslawien, natürlich in der gesamten arabischen und muslimischen Welt, und nicht zuletzt in Lateinamerika, z.B. in Venezuela oder Bolivien. Und es spielte bei den Aggressionen, Interventionen und Kriegen der USA nie eine Rolle, welcher Vertreter des US-Monopol- und Finanzkapitals gerade im Oval Office saß, welche der beiden Staatsparteien gerade die Mehrheit im Kongress hatte, denn dies ist ohnedies nur Demokratieillusion. Und es wird weiterhin keine Rolle spielen: Es wird die Interventionspolitik fortgesetzt, insbesondere in den Interessenssphären Russlands, es werden neue Kriege vorbereitet, etwa gegen den Iran, es wird zum Showdown gegen die kommende Hegemonialmacht China kommen.

Die aggressiven Pläne des US-Imperialismus, die immer mehr die Form eines Überlebenskampfes annehmen, haben ihre Entsprechungen im Inneren. Die Vereinigten Staaten zeigen nicht nur einfach eine gegebene Klassengesellschaft und ‑herrschaft, sondern diese bemüht sich um weitere Abstufungen unter den Unterdrückten. Hierfür fungieren ein institutionalisierter und mörderischer Rassismus gegen die afroamerikanische Bevölkerung, etwas abgemildert gegenüber Latinos und neuen Migranten, während man die indigenen Völker ohnedies schon gebrochen hat; auch die Frauenemanzipation tritt hier auf der Stelle. Aber auch dagegen gibt es Widerstand – es ist kein Zufall, dass Mumia Abu-Jamal und Leonard Peltier immer noch im Gefängnis sitzen, dass es eine „McCarthy-Ära“ gab, die nur oberflächlich beendet ist, dass ungezählte Mitglieder der Black Panther-Bewegung ermordet wurden, um nur ein paar prominenten Beispiele zu nennen. Der Staat hat den Widerstand gegen das Unrecht mit Repression unter Kontrolle gehalten, nur zeitweise flackert er eher unorganisiert auf, etwa 1992 von Los Angeles ausgehend oder im vergangenen Jahr um die letztlich für die Herrschenden harmlose BLM-Bewegung. Diesem Pol der Gesellschaft stellt man Beruhigungsmittel zur Verfügung, sei es Obama, ein ablenkender Bernie Sanders oder eben nun Joe Biden feat. Kamala Harris, die allesamt nichts an den Realitäten ändern können und wollen. Gleichzeitig hält man sich einen vermeintlichen Gegenpol im Volk, der mit Rassismus, Sexismus und nationalistischem US-Größenwahn gefüttert wird – dies sind die Leute, die nun am 6. Jänner 2021 das Kapitol gestürmt haben. Das sind nicht unbedingt nur oder nicht einmal vorrangig soziale Verlierer des nordamerikanischen Kapitalismus, sondern eher jene, die (berechtigt) befürchten, etwas verlieren zu können – und die vornehmlich weiße Männer sind. Der Trick dabei ist: Man macht ihnen vor, Afroamerikaner, Migranten, selbstbewusste Frauen, der Islam aka Terrorismus und der Sozialismus seien für den drohenden (oder weiteren) Abstieg verantwortlich, nicht die Herrschenden, die sie ausbeuten, nicht das System, dass dies impliziert und verlangt. Und so verteidigen diese Leute mit allem, was sie haben, ihr eigenes sklavisches Dasein gegen die, die noch weniger haben. Dafür allerdings ist keineswegs einfach nur Donald Trump verantwortlich.

Natürlich hat der (noch) amtierende Präsident alles dafür getan, die Stimmung anzuheizen und Öl ins Feuer zu gießen – und offenbar hat ihm auch niemand gesagt, wann es genug ist. Doch es handelt sich nicht um einen bizarren Alleingang, der lediglich durch Missbrauch des plötzlichen Machtinstruments Twitter ermöglicht wurde. Dass der Multimilliardär Trump sich als Messias (des weißen Teils) der Entrechteten und Unterdrückten inszenieren kann, ist nur auf der oben beschriebenen Grundlage möglich, die in den USA über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte aufgebaut wurde. Es ist Ausdruck der Klassenherrschaft und ihres Niedergangs, des Verfalls des US-Systems. Dieses wird mit Gewalt und deren Androhung aufrechterhalten, aber eben auch durch gezielte Spaltung der Bevölkerung, wobei ein Teil zum Instrument gegen den anderen wird. Der faschistoide Mob, der nicht bereit ist, das Ergebnis bürgerlicher Wahlen anzuerkennen, der Tyrannei und Verschwörung wittert, ist inzwischen ein Klassiker bürgerlicher Herrschaft. Er ist eine strategische Reserve der Herrschenden – aber einstweilen auch nur das und nicht mehr. Was sich am vergangenen Mittwoch in Washington rund um das Kapitol und darin abspielte, war weder ein tatsächlicher Aufstand noch ein Putschversuch, denn so kommt der Faschismus nicht an die Macht. Der Faschismus kommt dann an die Macht, wenn ihm diese übergeben wird, nämlich durch die Herrschenden in Politik und Wirtschaft sowie durch das Militär. Diese Kreise mögen ebenfalls gespalten sein, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es offensichtlich noch keinerlei Bereitschaft, die bürgerliche Demokratie und deren Masken fallenzulassen. Doch die Rute steht nun schon einmal gut sichtbar im Fenster, womit die Interessen von Republikanern wie Demokraten, von Öl‑, Waffen‑, Pharma- und IT-Konzernen gleichermaßen bedient sind. Sie können nun bedingungslose Unterwerfung unter das herrschende System einfordern – und im Zweifelsfall bleibt die Alternative des Umsturzes, der substanziell gewiss von oben kommt, nicht durch den fehlgeleiteten Mob. Dazwischen gibt es noch die Nuancen von Notstandsgesetzen und Ausnahmezuständen. Somit darf man auch zur Kenntnis nehmen: In den USA geht es nicht um tatsächliche Richtungsentscheidungen, sondern nur um verschiedene Seiten der gleichen Medaille. Auch Trump gehört natürlich fix zur Elite, auch wenn er sich zuvor noch nicht politisch inszeniert hat. Und der Faschismus ist und bleibt eine mögliche, ergänzende Herrschaftsform der Diktatur des Monopolkapitals, nicht der Antagonismus zu irgendeiner klassenneutralen „freiheitlichen Demokratie“ an sich.

Zurück zur internationalen Komponente. Die nordamerikanische Gesellschaft auf Basis eines rücksichtslosen Kapitalismusmodells ist zerrüttet, doch es geht eben auch um die internationale imperialistische Hegemonialposition der USA. Diese ist bedroht, durch emanzipatorische Bewegungen unterschiedlicher Herkunft, vor allem aber durch China und dessen Verbündete, zu denen auch Russland zählt. Durch Lateinamerika, Asien und teilweise Europa geht ein Bruch, den die USA forcieren wollen und der zu einem globalen Kampf um die Neuaufteilung der imperialistischen Einflusssphären und Zugriffsmöglichkeiten führt. Es ist nur eine Frage der Zeit – nach den bereits laufenden Stellvertreter- und inszenierten „Bürgerkriegen“, nach angeleiteten „Aufständen“ und offenen Interventionen –, wann die ungehemmte militärische Form angenommen wird. Denn schlussendlich wird dem US-Imperialismus nur noch diese Option bleiben: Es fehlt ihm an politischer Reputation und Glaubwürdigkeit, es fehlt ihm an wissenschaftlicher Innovation sowie zunehmend an wirtschaftlicher Macht und Finanzen, aber eines hat er nach wie vor, nämlich den mit Abstand größten und mächtigsten Militärapparat der Welt, die größten und tödlichsten Waffenarsenale, eben einen Rüstungsvorsprung. Die Kriegsmaschinerie der USA ist ihre Überlebensversicherung, nicht nur des US-Dollars, mittelfristig ihrer gesamten Position im Weltmaßstab. Man wird sie umfassend einsetzen, bevor man untergeht – und dann wird man an der propagandistischen Heimatfront, aber auch als Kanonenfutter genau den „Make America great again!“-Mob brauchen, der sich am Dreikönigstag vor dem Kapitol versammelt hat.

Der existenzielle Überlebenskampf des US-Imperialismus stellt eine große Gefahr für die Völker der Erde, für die gesamte Welt dar. Im schlimmsten Fall droht früher oder später ein neuer globaler imperialistischer Krieg, der die beiden bisherigen weit in den Schatten stellen würde. Es wird an den fortschrittlichen und Friedenskräften liegen, dies zu verhindern, in Solidarität mit den entsprechenden Kräften in den USA selbst. Im Inneren der Vereinigten Staaten droht im Zuge der Abwärtsspirale eine weitere autoritäre Entwicklung, in der die ohnedies unzulänglichen demokratischen und Menschenrechte endgültig über Bord gehen. Auf irgendeinen unterstellten „Anstand“ der politischen Elite oder gar der bewaffneten Kräfte des bürgerlichen Staates braucht man nicht rechnen, denn diese stehen im Sold und im Dienst des Kapitals und des Imperialismus.

Damit ist auch gesagt: Will man wirklich nachhaltig Armut, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Krieg und Faschismus, Wirtschaftskrisen und Pandemie-Versagen für die Zukunft unterbinden, so führt kein Weg daran vorbei, alle staatlichen Herrschaftsorgane des Kapitals durch solche der Arbeiterklasse und des Volkes zu ersetzen, alle Kapitalisten ihrer ökonomischen Macht zu entledigen und die imperialistischen Militärapparate zu zerschlagen. Das wäre eine wirkliche Revolution in Washington und darüber hinaus. Das ist es, was für die Menschheit wahre Demokratie und Freiheit sowie Frieden ermöglichen würde. Nicht nur der US-Imperialismus, sondern der Kapitalismus insgesamt ist eine Sackgasse, politisch, wirtschaftlich, sozial, ökologisch und kulturell. Das gegenwärtige Kräfteverhältnis mag eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft nicht auf die unmittelbare Tagesordnung setzen, doch es bleibt offenkundig unerlässlich, für eine Änderung dieser Verhältnisse und des Bewusstseins der arbeitenden Menschen zu wirken, damit Kapitalismus und Imperialismus in allen Gesichtern eines Tages Geschichte sind. Diesmal wird es nicht Gott sein, der den wütenden Leviathan erschlägt, sondern dies wird die aufgeklärte revolutionäre Arbeiterklasse erledigen müssen.

Quelle: Partei der Arbeit Österreichs – USA: Leviathan im Endkampf