USA in tiefer Krise

Der Sturm wildgewordener Horden auf das Capitol, den Sitz des Repräsentantenhauses der USA, verdeutlicht in bisher kaum dagewesener Weise den Zustand der bürgerlichen Demokratie in »Gottes eigenem Land«. Auf der Grundlage eines längst überkommenen Wahlsystems, bei dem viele Bürger des Landes nicht berücksichtigt werden und selbst die aktiven Wähler kaum eine Möglichkeit haben, für den Kandidaten ihrer Wahl zu stimmen, hat im November mit Joe Biden ein anderer Vertreter des Banken- und Großkapitals die »Wahl« gewonnen.

Daß der Wahlverlierer Trump sich mit Händen und Füßen dagegen wehren würde, war abzusehen, nachdem er bereits vor der ersten Stimmabgabe über »Wahlbetrug« schwadroniert und seine Anhänger mobilisiert hatte. Pech für ihn, daß er durch ein mitgeschnittenes Telefongespräch nun selbst der Anstiftung zum Wahlbetrug überführt wurde, als er einen Staatsanwalt quasi angewiesen hat, noch knapp 12.000 Stimmen zu seinen Gunsten zu »finden«.

Abzusehen war auch, daß die nach 200 Jahre alten Regeln festgelegte Zertifizierung der Wählerstimmen durch den Kongreß und den Senat nicht wie geplant ablaufen würde. Einerseits hatten einige Trumpisten unter den Senatoren angekündigt, Einsprüche zu erheben gegen Ergebnisse, an denen nach den allgemeinen Regeln der Mathematik normalerweise nicht zu rütteln ist. Und zudem hatte Trump erklärt, er werde zu seinen Getreuen reden, die sich zu einem »Save America March«, einem Aufmarsch zur »Rettung Amerikas« in der Bundeshauptstadt versammelten.

Was da in den Straßen Washingtons aufmarschierte, war eine krude Masse von radikalen Trump-Fetischisten. Leute, für die der abgewählte Präsident eine Art Super-Superman ist, Anhänger der Sklaverei, die mit Südstaaten-Flaggen marschierten, religiöse Eiferer mit der Losung »Jesus ist mein Erretter, Trump ist mein Präsident« – und vor allem hartgesottene Vertreter des gesamten rechten Spektrums der USA, und das beginnt etwa einen Millimeter links von Donald Trump. Der nutzte die sich bietende und zudem von langer Hand organisierte Gelegenheit, um dem sturmbereiten Mob zuzurufen, daß er die »legale Wahl« gewonnen habe, zumal mit einem »Erdrutschsieg«, und daßum keinen Preis zugelassen werden dürfe, daß ihm und seinen Anhängern die Wahl von »linksradikalen Liberalen« die Wahl »gestohlen« werde,.

Der dann beginnende Sturm auf das Capitol war folgerichtig. Daß er nicht verhindert wurde, zeigt deutlich den Zustand dieser »Demokratie«, die sich zu wehren weiß, wenn eine Bürgerrechtsbewegung wie »Black Lives Matter« demokratische Rechte einfordert, aber nicht, wenn ein Sammelsurium von Rechten, Rechtsextremen und Faschisten sich gegen ein gewähltes Organ zusammenrottet. Bei den BLM-Demos im vergangenen Jahr gab es Zehntausende Verhaftungen, bei dem dummdreisten Putschversuch am Mittwoch lag die Zahl im zweistelligen Bereich.

Bezeichnend ist vor allem, daß am selben Tag in den USA eine neue Rekordzahl an Todesopfern im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemeldet wurde, einen Tag später das Arbeitsministerium erneut knapp 800.000 neue Arbeitslose einräumen mußte, und das Handelsministerium den höchsten Stand im Außenhandelsdefizit seit 2006.

Die Krise dieses Landes und dieses Systems geht sehr tief, und die Erstürmung des Capitols ist nur eines der Symptome.

Uli Brockmeyer

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Unser Leitartikel: <br/>USA in tiefer Krise