Eine starke, unabhängige Frau

Anahita Ratebzad, rechts stehend, mit Genossinnen. Foto: Familie Ratebzad via Twitter / People's World
Anahita Ratebzad, rechts stehend, mit Genossinnen. Foto: Familie Ratebzad via Twitter / People's World

Alle Zeitungen und Nachrichtensendungen im Fernsehen sind derzeit voll von Berichten über die düstere Zukunft, die afghanischen Frauen und Mädchen bevorsteht, nachdem die Taliban wieder die Kontrolle über ihr Land übernommen haben. Der »Guardian« brachte Ende letzter Woche einen Artikel einer ungenannten afghanischen Frau, die erklärte, sie verstecke jetzt ihre beiden Universitätsabschlüsse und suche nach einer Burka, um jeden Zentimeter ihrer selbst zu bedecken, da die frauenhassenden Fundamentalisten der Taliban immer näher rücken.

Sie sagte, sie habe Englisch-Unterricht gegeben. »Jedes Mal, wenn ich daran denke, daß meine hübschen kleinen Studentinnen ihre Ausbildung abbrechen und zu Hause bleiben sollten, kommen mir die Tränen… Als Frau fühle ich mich als Opfer eines politischen Krieges, den die Männer begonnen haben.«

Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans, die Frauen, könnten alle Errungenschaften, die sie erkämpft haben, nun wieder zunichte gemacht werden. Und eine große Mehrheit der Männer wird ebenfalls ihre demokratischen Rechte verlieren.

Wir sollten nicht vergessen, daß die USA eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Schicksals Afghanistans gespielt haben, indem sie die CIA losschickten, um die konterrevolutionären Mudschahedin zu bewaffnen und die fortschrittliche April-Revolution in den 1980er Jahren zu stürzen. Zu den Killern, die die CIA für diese Todesschwadronen ausbildete und ausrüstete, gehörte Osama bin Laden, der Anführer der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon.

Dies ist aber auch ein guter Moment, um Anahita Ratebzad zu gedenken, der Mutter der afghanischen Frauenbefreiung und Verteidigerin der Gleichberechtigung der Geschlechter, für die sie so hart gekämpft hat. Als 1978 die April-Revolution in Afghanistan begann, war Anahita Ratebzad als eine der führenden Persönlichkeiten der Demokratischen Volkspartei mittendrin im Kampf.

Sie schrieb eine berühmte Polemik, die in der Ausgabe der »New Kabul Times« vom 28. Mai 1978 erschien: »Die Privilegien, die Frauen von Rechts wegen haben müssen, sind gleiche Bildung, Arbeitsplatzsicherheit, Gesundheitsfürsorge und freie Zeit, um eine gesunde Generation für den Aufbau der Zukunft des Landes heranzuziehen. … Die Bildung und Aufklärung von Frauen ist nun Gegenstand der Aufmerksamkeit der Regierung.«

Nach dem Sieg der April-Revolution wurde Anahita Ratebzad durch den neuen Premierminister Nur Mohammad Turaki zur Ministerin für soziale Angelegenheiten ernannt.

Anahita wurde am 1. November 1931 in dem Dorf Gildara in der Provinz Kabul geboren. Ihr Vater unterstützte demokratische Reformen und wurde vom reaktionären monarchistischen Regime ins Exil in den Iran gezwungen. Sie sah ihren Vater kaum, wuchs in Armut auf und besuchte eine französischsprachige Schule. Im Alter von 15 Jahren wurde sie gezwungen, Dr. Keramuddin Kakar zu heiraten, einen Chirurgen, der einer der wenigen afghanischen Männer mit ausländischer Ausbildung war. Sie und ihr Mann bekamen drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne.

Auch Anahita Ratebzad entschied sich für die Medizin und absolvierte von 1950 bis 1954 ein Studium der Krankenpflege an der Universität von Michigan. Die Universität Kabul ließ schließlich auch Frauen an ihrer medizinischen Fakultät zu, und Anahita erwarb dort 1962 einen Abschluß.

Im Jahr 1957 wurde den Frauen in Afghanistan die Verschleierung freigestellt, und Anahita Ratebzad führte eine Gruppe unverschleierter Krankenschwestern an, die männliche Patienten behandelten – eine Revolution sowohl in der Gesundheitsversorgung als auch bei der Gleichberechtigung der Frauen am Arbeitsplatz.

Doch in den folgenden Jahren wurde sie wegen dieser mutigen Initiative von islamischen Fundamentalisten aufs Übelste diffamiert. Ihr Ehemann, der den afghanischen Monarchen Zahir Khan unterstützte, trennte sich von ihr. Sie blieben getrennt, ließen sich jedoch nicht scheiden.

1957 leitete Anahita Ratebzad eine Delegation afghanischer Frauen, die an der Asiatischen Frauenkonferenz in Ceylon (Sri Lanka) teilnahm – es war das erste Mal überhaupt, daß afghanische Frauen an einer internationalen Konferenz teilnahmen. 1964 gründete sie die Demokratische Organisation Afghanischer Frauen, und am 8. März 1965 organisierte Anahita Ratebzad zusammen mit anderen Frauen den ersten Marsch durch Kabul zur Feier des Internationalen Frauentags.

Anahita Ratebzad war auch eine Leserin, Schriftstellerin und Denkerin. Im Laufe ihrer politischen Arbeit wurde sie zur Marxistin-Leninistin. Sie war eine von vier Frauen, die 1965 als Vertreterin der Provinz Kabul in das afghanische Parlament gewählt wurden – die erste Gruppe von weiblichen Abgeordneten in der Geschichte des Landes.

Später, in den Jahren der sozialistischen Revolution in Afghanistan, bekleidete sie mehrere Kabinettsposten und war zeitweise auch Botschafterin in Jugoslawien und Bulgarien. Von 1980 bis 1985 war sie stellvertretende Vorsitzende des Revolutionsrats – und somit Vizepräsidentin Afghanistans. Keine Frau zuvor oder danach hatte eine derartig hohe Position im Land inne.

Nach dem Sturz der fortschrittlichen Regierung war sie 1992 gezwungen, vor den Mudschaheddin-Terroristen zu fliehen, die sie wegen ihrer sozialistischen Politik und ihrer Rolle als Vorkämpferin für die Befreiung der Frau ins Visier nahmen. Sie landete zunächst bei ihrer Familie in Indien und ging dann 1995 nach Sofia, Bulgarien. Deutschland gewährte ihr ein Jahr später Asyl, und sie starb 2014 im Alter von 82 Jahren in Dortmund.

Politische »Experten« spucken in diesen Tagen eine Flut von Beschimpfungen aus: »Wer hat Afghanistan verloren?« Washington und die Medien sind voll von Schuldzuweisungen. Doch die afghanische April-Revolution findet kaum Erwähnung. Und wenn sie überhaupt erwähnt wird, wird die Regierung, die sie angeführt hat, lediglich als »sowjetische Marionette« abgetan.

Anahita Ratebzad war niemandes Marionette. Sie war eine starke, unabhängige Frau, das Gesicht eines neuen Afghanistan.

Aus »People’s World«, Zeitung der Kommunistischen Partei der USA

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Eine starke, unabhängige Frau