Entlastung durchgesetzt

Als über 700 Beschäftigte am 19. Januar 2022 den Klinikvorständen und der Landesregierung NRW ihr 100-Tage-Ultimatum für einen Tarifvertrag Entlastung stellten, ahnten wohl wenige, dass der Kampf sich bis in den Juli hineinziehen würde. 77 Tage im Erzwingungsstreik an sechs Unikliniken waren nach Ablauf des Ultimatums notwendig, um den Arbeitgebern einen Tarifvertrag abzutrotzen, den ver.di als Etappensieg wertet.

Am 20. Juli beschloss die ver.di-Tarifkommission die Annahme des in der Vornacht erzielten Ergebnisses. Dem vorausgegangen waren die Beratungen zum Eckpunktepapier für den zukünftigen Tarifvertrag Entlastung mit den Streikenden an den sechs Klinikstandorten. Diese bewerteten das Verhandlungsergebnis mit breiter Mehrheit positiv. Nicht euphorisch, aber mit klarem Blick auf die Erfolge, die gegen ein Arbeitgeberlager und eine Landesregierung durchgesetzt wurden, die weiter kein Interesse an einer Gesundheitsversorgung im Sinne der Patienten und Beschäftigten haben. Und hochkritisch, was die spaltenden Bestandteile des Ergebnisses angeht.

Auf der klaren Habenseite des Tarifvertrags steht die Festlegung von Personalverhältniszahlen, die festlegen, wie viele Pflegekräfte für wie viele Patientinnen und Patienten in jeder Schicht da sein müssen. Auf den normalen Pflegestationen wurden diese sogenannten „Ratios“ je nach Pflegeaufwand der Patienten mit 1:7 bis 1:10 festgelegt, auf Kinderstationen mit 1:4 bis 1:6 und auf Intensivstationen mit 1:2 oder besser. Aber auch für Pflegearbeitsbereiche, die durch die Krankenkassen nicht automatisch refinanziert werden, wurden durch die starken Streiks solche Verhältniszahlen durchgesetzt, unter anderem für die Kreißsäle, Notaufnahmen, Operationssäle und Herzkatheterlabore.

Diese Verhältniszahlen entfalten ihre Wirkung dadurch, dass bei Unterschreitung Belastungssituationen für die Beschäftigten festgestellt werden, die dann mit freien Tagen ausgeglichen werden. Arbeitet eine Schicht mit zu wenig Personal für die anwesende Anzahl von Patienten, erhalten alle Beschäftigten der Schicht eine Belastungssituation. Bei sieben gesammelten Belastungssituationen gibt es einen Tag frei. Die Kombination der starken Ratios und deren Ausgleich im Verhältnis 1:7 würde bei einem Großteil der Pflegebeschäftigten zum nahezu durchgehenden Ansammeln von freien Tagen führen und damit, so der Plan, die Arbeitgeber zum Personalaufbau zwingen, weil sonst die Leistungen nicht mehr erbringbar sind. Geschwächt wird diese gute Regelung in der Tarifeinigung dadurch, dass die EDV-Erfassung für die Ratios erst zum Juli 2024 eingeführt sein muss und es bis dahin jeweils fünf pauschale freie Tage für alle Beschäftigten gibt. Und wenn das System dann scharf geschaltet ist, sind die abbuchbaren Tage je Beschäftigten gedeckelt, so dass im ersten Jahr maximal elf, im zweiten Jahr 14 und ab dem dritten Jahr 18 freie Tage genommen werden können, der Rest darüber hinaus verfällt. Für die Beschäftigten ist ebenfalls eine Auszahlung der freien Tage möglich.

300302 - Entlastung durchgesetzt - Tarifvertrag Entlastung, Unikliniken Nordrhein-Westfalen, ver.di - Wirtschaft & Soziales
Streiktag in Essen (Foto: Johannes Hör

War der Widerstand der Klinikvorstände gegen noch bessere Regelungen für die Pflegekräfte schon sehr hoch, wurde er bei den Forderungen für die nicht-pflegerischen Beschäftigten extrem. Trotz einer relativ weitgehenden Finanzierungszusage der Landesregierung für diese Kosten wurde bis aufs Messer versucht, wirksame Entlastungsregelungen für andere Berufsgruppen zu verhindern. Ein großer Erfolg im Tarifvertrag ist deshalb die Festlegung von verbindlichen Stellenplänen und Personalaufbau von 10 bis 15 Prozent für therapeutische Berufe, Servicekräfte, in den Röntgenabteilungen und Betriebskitas der Unikliniken. Das Ziel, für alle weiteren Beschäftigten, die ebenfalls und häufig nur an ein oder zwei Kliniken Forderungen aufgestellt hatten (zum Beispiel in der IT, in Küchenbereichen und Laboren), wirksame Entlastungsregelungen durchzusetzen, wurde verfehlt. Die Streikenden haben zwar den Widerstand der Klinikvorstände gebrochen, die bis zum Schluss jede Regelung für diese Bereiche verhindern wollten, aber das Ergebnis mit einem Vollkräfteaufbau von 30 Stellen pro Klinik ist nicht zufriedenstellend gerade für die Kolleginnen und Kollegen, die nach elf Wochen Streik für ihr eigenes Arbeitsumfeld nur einen minimalen Stellenaufwuchs verzeichnen können.

Große Freude gab es demgegenüber wieder bei den Auszubildenden, die bundesweit erstmals in einem Tarifvertrag freie Tage als Belastungsausgleich in der Ausbildung selbst durchsetzen (bis zu fünf pro Jahr) und für viele Ausbildungsberufe deutlich bessere Ausbildungsbedingungen vereinbaren konnten.

In den nächsten zwei Wochen findet die Urabstimmung unter den ver.di-Mitgliedern statt, in der die Frage Annahme des Ergebnisses oder Weiterstreiken zu beantworten ist.

Die Diskussion zur Tarifeinigung in den Streikzelten, im Delegiertenrat und in der Tarifkommission ist trotz der Spaltlinien geprägt von einem solidarischen und sehr politisierten Umgang nach elf Wochen gemeinsamen Kampfes. Eines Kampfes, der sich grundlegend mit dem Gesundheitssystem und der Finanzierungslogik angelegt hat und dann in Summe doch genau die Härte und den Widerstand auslöste, die man erwarten musste. Umso größer ist der Erfolg einzuschätzen, auch was seine Vorbildwirkung für weitere Kämpfe in Dresden, Frankfurt und vielen anderen Kliniken angeht, die aus NRW das Signal mitnehmen, dass Streiks das wirksamste Mittel der Beschäftigten sind und darüber auch in zentralen Fragen das Kapital zu Zugeständnissen gezwungen werden kann.

 

Folgerungen aus dem Streik

Zu den Fragen der Streikstrategie, des betrieblichen Stärkeaufbaus, der versuchten Demokratisierung dieses zentralen gewerkschaftlichen Kampfes und auch den jetzt schon absehbaren Folgeauswirkungen auf die Gesundheitspolitik in Land und Bund werden in den kommenden Ausgaben der UZ weitere Artikel folgen.

Auf dem UZ-Pressefest diskutieren wir mit Kolleginnen und Kollegen aus den Krankenhäusern und Unterstützerinnen und Unterstützern über den Streik und die Notwendigkeit der Entlastung in der Pflege.

Samstag, 27. August, 12.30 Uhr, ­Debattenzelt

 

Quelle: Unsere Zeit